Ewiges Gedenken
 

Rußland-Bilder von Ursula Schulz-Dornburg
Von Sergey Fofanov

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Der Erste Brief des Apostels Paulus an die Korinther, I, 13:12

I. Das Ende der Antiutopie
 

In seinem berühmten Werk „1984“, das 1948 entstanden war, erzählt George Orwell vom Leben in einer fiktiven totalitären Gesellschaft. Als Vorbild zu deren Darstellung diente dem Schriftsteller zweifellos die real existierende Sowjetunion. Das Erscheinen dieser Antiutopie setzte selbst ein Zeichen für den beginnenden Kalten Krieg. Doch entgegen der düsteren Prophezeiung war die UdSSR im Jahr 1984 kein „Ozeanien“ geworden, wie vom englischen Schriftsteller und Journalisten beschrieben, sondern stand, ganz im Gegenteil, scheinbar auf der Schwelle zu umfassenden liberalen Reformen. Der vom neuen Führer des Landes, Michail Gorbatschow, 1985 verkündete Kurs der Erneuerung bedeutete schließlich das Ende des kommunistischen Projekts. 

Alle Welt sprach von „Glasnost´“ und „Perestrojka“. Politiker, Medienschaffende und Öffentlichkeit des Westens registrierten mit unverhohlener Genugtuung und Erleichterung, wie das „Reich des Bösen“ in Agonie fiel. Nach einem halben Jahrhundert endete die Ära der Konfrontation beider Weltmächte, und da mit dem Kalten Krieg auch der Zweite Weltkrieg nunmehr zu einem Abschluß gekommen war, schien es, als seien alle Widersprüche überwunden und die Welt könne nun nach vorne schauen, auf ein zukünftiges Leben in Frieden. Die Vorstellung, das Ende der Geschichte zu erleben, und die Verheißung allgemeinen Wohlstands versetzten Menschen im Westen wie im Osten geradezu in Euphorie. Ausgelöst von der allgemeinen Begeisterung und optimistischen Erwartungen kam es zur Verbreitung von sowjetischem Kitsch: allerorten tauchten Symbole der Sowjetherrschaft und sowjetischer Massenkultur auf, musikalisch und in den Bildkünsten, die ihre bedrohliche Wirkung eingebüßt hatten, sozusagen entschärft waren. Rote Sterne, Hämmer und Sicheln, Uniformen der Roten Armee wurden beliebte Souvenirs für ausländischer Touristen, die nun scharenweise die Städte der ehemaligen Sowjetunion eroberten. Derartige Reisen wurden in erster Linie als exotische Abenteuer und Nervenkitzel, als amüsante Safaris im Disneyland der Antiutopie erlebt. Den Bürgern der früheren UdSSR erschienen die neugierigen Touristen dagegen als erste Vorboten der ihnen unbekannten großen Welt. Ohne es zu merken, sind sie zu komischen Wesen geworden, die von Ausländern angegafft wurden, und beteiligten sich freiwillig an diesem seltsamen Spiel. Bekanntlich wechselt die Mode jede Saison, und genauso erging es der populären Begeisterung für sowjetische Exotik: damit war es bald vorbei und andere Phänomene, Ereignisse und Länder zogen die weltweite Aufmerksamkeit auf sich.

War die Auflösung der Sowjetunion, im Großen und Ganzen, nur eine Episode der Weltgeschichte, prägte dieser Vorgang gleichzeitig die persönlichen Biografien ihrer vormaligen Staatsbürger. Die rauschhafte Begeisterung über Perestroika und Glasnost´, die freudige Erwartung einer lichten Zukunft und der Glaube daran, alle würden bald so leben wie im Westen, verkehrten sich in abgrundtiefe Enttäuschung. Das Scheitern wirtschaftlicher Reformen stürzte das Land in Armut und Hunger. Nach den Touristenströmen kamen die Konvois der internationalen Hilfsorganisationen. Die Sowjetunion ging zugrunde und dieses Ereignis wurde feuchtfröhlich begossen, allein das langersehnte neue Leben ließ auf sich warten. Das Einzige, was den Menschen blieb, waren ihre Erinnerungen und ihre Vergangenheit.

Zu den Fotografien der Serien aus 1994 und 2000/01

Im Jahr 1994 bekam die Entwicklung Rußlands und der früheren Sowjetrepubliken, die unabhängig geworden waren, eine neue Ausrichtung. Eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres wurde die Unterzeichnung des Budapester Memorandums, einer trilateralen Erklärung der Präsidenten der USA, Rußlands und der Ukraine. Sie regelte die Übergabe der auf ukrainischem Territorium eingelagerten sowjetischen Atomsprengköpfe an Rußland und enthielt Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Ebenfalls 1994 startete Moskau die „Operation zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien“, die als Erster Tschetschenien-Krieg in die Geschichte einging. Ein Jahr nach Beschießung des Weißen Hauses in der russischen Hauptstadt („Haus der Regierung“) nahm die Staatsduma der ersten Einberufung dort ihre Arbeit auf. Schließlich kehrte mit Literaturnobelpreisträger Aleksandr Solschenizyn der bekannteste politische Emigrant in seine Heimat zurück. Man konnte meinen, unser Land habe ein neues Kapitel seiner Geschichte aufgeschlagen. 

Und ausgerechnet 1994 reiste Ursula Schulz-Dornburg zum ersten Mal nach Rußland. Wie sich zeigte, war sie genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. 

 

Wawilow-Institut, Ewiger Weizen (1994)

Der formale Anlaß, just in diesem Jahr eine Reise nach Rußland zu unternehmen, war die erhaltene Genehmigung zu Foto-Aufnahmen im Allunions-Institut zur Erforschung der Pflanzenzucht, benannt nach dem russisch-sowjetischen Botaniker Nikolai I. Wawilow (1887–1943). Diese wissenschaftliche Einrichtung besitzt eines der weltweit größten Samen-Archive. Während der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg, als die Bevölkerung hungerte, haben die in der Stadt gebliebenen Mitarbeiter des Instituts, trotz alledem, die wertvolle Sammlung gerettet. Die getrockneten Halme und Samen der Getreidepflanzen, die nie austreiben und selbst Früchte bilden werden, wurden für wichtiger gehalten als menschliches Leben. Ursula Schulz-Dornburg schuf mit ihren Schwarz-Weiß-Fotografien einprägsame Porträts der Gewächse. Jedes von ihnen erscheint eingezwängt im Rahmen seines Archivkartons, der an eine Streichholzschachtel und gleichfalls an ein Grab erinnert. Unter der Hand verwandelte sich das Fruchtbarkeitsfest zur Ernte in eine Totenmesse, das Stillleben zum Nature morte. Es sieht so aus, als ließe sich aus den abgestorbenen Gewächsen allenfalls Brot für die Toten backen, das nicht zum Verzehr bestimmt ist und keinen satt macht. Denn schließlich gibt es in Rußland den Brauch, Verstorbenen auf ihrer Totenfeier ein Glas Wodka hinzustellen und darauf ein Stück Schwarzbrot zu legen.

Noch zweimal hat Ursula in der Folge Rußland besucht: in den Jahren 2000 und 2002. Die seinerzeit in Moskau und Sankt Petersburg entstandenen Aufnahmen bildeten die Grundlage für die Fotografie-Zyklen „Platz des Aufstandes“ (2000), „Kronstadt“ (2002) und „Memoryscapes“ (2000/ 2001). Ein fotografisches Projekt zu Murmansk, über den dortigen Flottenstützpunkt für russische Atom-U-Boote, wurde nicht verwirklicht. 

II. Erinnerung, Andenken, Gedächtnis
 

Mit Andenken (russ. pamjat´) gemeint ist eine Einstellung zwischen Leben und Tod. „Večnaja pamjat´!“ (dt.: Ewiges Gedenken!) – mit diesen Worten endet das Gebet russisch-orthodoxer Christen zur Totenmesse, das der Priester bei einer Trauerfeier vorliest. Es ist gerade der Gedanke an „Ewigkeit“, der in diesem Zusammenhang verunsichert. Kann ein Angedenken ewig währen und, wichtiger noch, ist dergleichen erstrebenswert? Denn es gibt bei uns noch eine andere Formulierung für die Trauer um einen Verstorbenen: das lichte oder auch freundliche Andenken (russ.: svetlaja pamjat´). Der Unterschied zwischen der unendlichen, gesichtslosen Ewigkeit und einem freundlichen Andenken ist sicherlich kein geringer! Leider setzte Rußland auf die Ewigkeit und geriet zudem noch in den schrecklichen Malstrom der Vergangenheit. 

Eine ideologische Konstruktion der Geschichte, geschaffen vom russischen Staat, beraubte die Menschen ihrer eigenen, persönlichen Erinnerungen. Dafür bekamen sie einen Geschichtsersatz, etabliert als Mythos und Kult. Auf diesem Wege schuf die Macht im Lande ein ihr genehmes Modell kollektiven, gesichtslosen Andenkens zur Manipulation des gesellschaftlichen Bewußtseins. 

Die unerfüllten Hoffnungen auf eine strahlende Zukunft nach der Oktoberrevolution 1917 und die totale Enttäuschung mit der Perestroika der 1980er Jahre brachten die rußländische Gesellschaft zwangsläufig dazu, sich der Vergangenheit zuzuwenden. Anders gesagt, alles wurde auf den todbringenden Krieg gesetzt, nicht aber auf die modernistische Utopie einer sozialen Moderne und allgemeiner Gleichheit.

Der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wurde zum einzigen positiven und erfreulichen Ereignis in der rußländischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Damals wurde gekämpft und die Menschen opferten sich auf für das künftige Leben, nicht für Orden, aus Heldentum oder Blutdurst. Und heute, da der Krieg längst der Vergangenheit angehört und ebenjene Zukunft angebrochen ist, erwies sich die Welt als unfähig, etwas damit anzufangen.

Diese abnorme Entstellung des natürlichen Laufes der Dinge und die systematische Unterdrückung jeglicher Entwicklungen in Richtung Zukunft demonstriert niemand besser als das heutige Rußland, das erneut dem Kriegskult frönt und auf Sieg setzt, dabei jedoch vergißt, was Krieg in erster Linie ist: die Geschichte unzähliger menschlicher Tragödien. Derzeit wird in Rußland sozusagen selbst die Zeit abgetrieben: rückwärtsgewandt, ging ihr die Zukunft verloren und sie wurde zum Todessymbol. Die Verehrung von Gespenstern der Vergangenheit und die Entfesselung eines archaischen Siegerkults riefen Ressentiments hervor und führten zu einer entsetzlichen Katastrophe – dem verrückten Krieg Rußlands gegen die Ukraine – einem Krieg zwischen Archaikern und der Welt der Moderne. In dieser Konfrontation will die Vergangenheit die Zukunft zerstören und der Tod versucht, das ewige Leben zu besiegen.

III. „Memoryscapes“, 2000 / 2001
 

Diese Serie von Ursula Schulz-Dornburg ist ein außerordentlich originelles Dokument, das die Mechanismen des Erinnerns verstehen hilft. Viele Jahre ruhten die Negative mit den Aufnahmen, aus denen diese Serie besteht, im persönlichen Archiv der Künstlerin. Jetzt erst, über zwanzig Jahre später, entschied sie, sich diesen Aufnahmen wieder zuzuwenden und ihre Erinnerungen öffentlich zu machen. 

Moskau
 

Einige der Aufnahmen aus der Serie „Memoryscapes“ entstanden in Moskauer Museen, wie sich anhand der Exponate feststellen ließ, die darauf abgebildet sind. Einige der Ausstellungen sind bis heute in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben, andere wurden im Wesentlichen stark verändert.

In den Jahren des Zweiten Weltkriegs erlangte Moskau als Hauptstadt des Stalinschen Imperiums eine besondere sakrale Bedeutung. Die Niederlage der deutschen Armeen in der Schlacht um Moskau im Jahre 1942, ein erster großer Erfolg der Sowjetunion, bestimmte den weiteren Verlauf des Kriegsgeschehens. Zum Jahrestag der Oktoberrevolution wurde am 7. November 1941 auf dem Roten Platz in Moskau eine Militärparade abgehalten, von wo die Einheiten direkt an die Front geschickt worden sind. Auf demselben Platz fand 1945 die grandiose Siegesparade statt. Für lange Zeit wurde Moskau mit dem Sieg assoziiert, viele städtische Orte tragen entsprechende Namen: ein Platz, ein Prospekt, ein Park des Sieges usw. Zum 50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges eröffnete in Moskau 1995 ein Museum des Sieges. Ein riesiger Erholungspark namens „Patriot“, der 2014 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, geriet zur wahren Apotheose des allerneuesten Kultes um Krieg und Sieg.

Zentrales Museum der bewaffneten Kräfte der Rußländischen Föderation, Moskau

Das Museum der bewaffneten Kräfte ist schwerlich als Tempel des Kriegsgottes Mars zu bezeichnen. Dieses ganz bescheidene und elegante Gebäude des sowjetischen Brutalismus der 1970er Jahre liegt abseits in den grünen Bezirken Moskaus. Die Einrichtung der Ausstellungssäle, die Ursula Schulz-Dornburg dort vor vielen Jahren in zahlreichen Aufnahmen festhielt, blieb unverändert erhalten. Das Gros der dort ausgestellten Exponate steht, aufgrund ihrer Eigenart, im Widerspruch zum Geist des Militarismus und der Parademärsche. Das Museum erzählt von den gefallenen Helden des Krieges, vorgestellt durch Tafeln mit hunderten Namen, deren individuelle Besonderheit in der endlosen Aufzählung untergeht. Ein paar Namen sowjetischer Kriegstoter sind der deutschen Fotografin zufällig vor die Linse gekommen: der „Politruk“ (russ. Abk. für političeskij rukovoditel´, d.i. politischer Leiter) Danilow, Tatjana Kuzenko, Maksim Grabtschuk, Aleksandr Chudobekow. Hinter jedem dieser Namen verbirgt sich ein eigenes tragisches Schicksal. Der eine fiel an der Front, ein anderer war in Gefangenschaft geraten und ist deswegen anschließend in ein sowjetisches Lager verbannt worden. Hunderte Artefakte – persönliche Hinterlassenschaften, Fotos und Notizbücher – erzählen uns die Geschichten der Verschwundenen.

Das Kopftuch der Olga Rschewska, Moskau

Eines der Exponate, das Ursula Schulz-Dornburg intuitiv mit der Kamera aufgenommen hatte, stammt offenkundig aus dieser Ausstellung: ein Stück Stoff, ein Kopftuch mit einer letzten Botschaft der Partisanin Olga Rschewska, die in deutsche Gefangenschaft geraten war und ihre Hinrichtung erwartete. In diesem Brief an die Mutter nimmt Olga Abschied von ihren Angehörigen:

„Rschewskaja Olga Dmitrijewa, 20 Jahre alt. … Starb am 27.2.1943, wegen ihrer Verbindung zu Partisanen. Wer dies findet, benachrichtige die Angehörigen. Mama, diese Zeilen schrieb ich noch in Spas-Demensk. Ich trug das Kopftuch und fand, es eigne sich für einen Brief an Euch. Lebt wohl, liebe Verwandte!

Guten Tag, liebe Mutter. Einen Gruß von der Tochter Olga. Mama, meine liebe, heute, es ist der 6. März, bin ich seit zwei Monaten ohne Aussicht auf Freiheit, doch das alles ist bedeutungslos. Mama, teure, Du hast vielleicht gehört, daß man uns am 11. Januar aus Elni nach Spas-Demensk geschickt hat. Das Verhör endete am 14. Januar, alle Untersuchungen und die Bearbeitung meiner Sache wurden am 23. Januar abgeschlossen. Nach dem Verhör blieben wir bis zum 27. Februar die ganze Zeit in Spas-Demensk. Am 27. Februar brachte man mich nach Roslawl ins Gefängnis, wo ich mich bis heute befinde. Ich weiß nicht, was mich erwartet, vermute jedoch, daß ich Dich, liebe Mutter, nicht wiedersehen werde und darauf nicht zu hoffen ist. Denke nur, Mama, an den schweren Tag unserer Trennung und den Abschied. Es war der 10. Januar 1943, ein Sonntag, als ich das heimatliche Dorf und Dich, liebe Mama, verlassen musste…“

Zentrales Museum des Innenministeriums, Moskau

Ursula Schulz-Dornburg fand Gelegenheit, ein weiteres bemerkenswertes Museum zu besuchen: das Museum des Innenministeriums, genauer das Polizeimuseum. Eine Mehrzahl der Moskauer ahnt wohl nichts von der Existenz dieses Museums, das sich seit 1981 im Zentrum der Hauptstadt befindet, doch eine Schattenexistenz führt, bislang auch ohne eigene Internetseite. Wie es aussieht, handelt es sich um unscheinbare Räumlichkeiten mit einer außergewöhnlichen Sammlung. Dort findet sich etwa ein Fotoapparat mit den Initialen „FED“, aus dem Besitz der Arbeitskommune für verwahrloste Kinder in Charkow. Die Abkürzung steht für Feliks Edmundowitsch Dzerschinski, Gründer der Geheimpolizei Tscheka und als Mitglied der sowjetischen Regierung auch für die Betreuung der elternlosen Kinder zuständig. In diesem Museum gibt es verschiedene Ausstellungsstücke, die mit der Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane zu tun haben. Außerdem gibt es Vitrinen, die diversen Kategorien von Verbrechen gewidmet sind: Druckmaschinen von Falschmünzern, Werkzeuge und Dietriche, um Schlösser zu öffnen usw. Auch gibt es Informationstafeln, die über die Erfindung der Daktyloskopie informieren.

Eine Besonderheit in der Sammlung dieses nicht allzu großen Museums stellen die Hinterlassenschaften von Gefangenen des GULag-Systems dar: selbstgefertigte Holzschuhe, Notizbücher und Alben, selbstgefertigtes Geschirr. Diese schrecklichen Zeugnisse des Großen Terrors sind vermutlich infolge der Perestroika in die Ausstellung gelangt, als es erstmals möglich wurde, über dieses Thema öffentlich zu sprechen.

© Bild: Ursula Schulz-Dornburg
© Bild: Ursula Schulz-Dornburg
© Bild: Ursula Schulz-Dornburg
© Bild: Ursula Schulz-Dornburg
© Bild: Ursula Schulz-Dornburg
© Bild: Ursula Schulz-Dornburg

Sankt-Petersburg
 

Leningrad/Sankt-Petersburg, die Stadt dreier Revolutionen, unterscheidet sich ganz wesentlich von Moskau. Den Hauptunterschied zwischen beiden Metropolen machen wahrscheinlich gerade ihr Verhältnis zum Krieg und die Erinnerungen daran aus. Steht Moskau für den triumphalen Sieg, so bewahrte Petersburg bis heute die Erinnerung an die schrecklichen Tage der Leningrader Blockade. 

Sankt Petersburg – ist ein Zwischenstromland (Mesopotamien), eine Stadt, gelegen zwischen Newa und Styx, dem Strom des Vergessens. Vom Moment ihrer Gründung an wurde diese „auf Knochen erbaute“ Stadt als eine Todesmetapher verstanden. Der Eindruck von Trübseligkeit und Leere beim Anblick seiner weiten Plätze erzeugt ein bedrückendes Gefühl von kosmischer Einsamkeit und ewiger Trauer über die Vergangenheit. Nicht ohne Grund sind die übelriechenden, fahl beleuchteten Straßen dieser kranken Stadt der Ort, wo Rodion Raskolnikow seine Verbrechen erdenkt und verübt.

Während der Blockade (1941–1944) war Leningrad eine Stadt, wo der Tod zum Alltag gehörte und die Menschen lebten, als seien sie bereits gestorben. Noch heute mag es Touristen, die zum ersten Mal diese schöne und traurige Stadt besuchen, so erscheinen, als würde Petersburg nicht lebten, sondern das Leben bloß imitieren. Genau dieses Empfinden von Trauer und Hoffnungslosigkeit vermitteln die Aufnahmen von Ursula Schulz-Dornburg, die in Ausstellungen Petersburger Museen entstanden sind.

Eisbrecher „Krasin“,
Museum der Arktis und Antarktis, Sankt-Petersburg

Das Schiffsmuseum auf dem Eisbrecher „Krasin“ (ehemals „Swjatogor“) ist eines der ungewöhnlichsten Museen, das die deutsche Fotografin besichtigen konnte. Erbaut 1915–1917 auf englischen Werften für die Flotte des russischen Zaren, war das Schiff seinerzeit der stärkste Eisbrecher der Welt. Seine Fertigstellung fiel mit den revolutionären Ereignissen in Rußland zusammen; das Schiff spielte eine aktive Rolle im Bürgerkrieg (1919–1922) und fiel sogar vorübergehend dem britischen Interventionskorps in die Hände. Die sowjetische Regierung vereinbarte 1922 die Übergabe des Eisbrechers an die Bolschewiki, der noch bis 1989 zum Arsenal der sowjetischen Flotte zählte und auf die eine oder andere Weise dort seinen Dienst tat. Das Schicksal des Schiffes hing praktisch, chronologisch betrachtet, aufs Engste mit der Geschichte der Sowjetunion zusammen. Zum wichtigsten Ereignis in der Geschichte der „Krasin“ (1927 war die Umbenennung zu Ehren des sowjetischen Diplomaten erfolgt) geriet der Einsatz zur Rettung der Besatzung des Luftschiffs „Italia“, das 1928 in der Nähe des Nordpols verunglückt war. Das Schiff wurde 1991 zum geschützten Kulturdenkmal erklärt und liegt seit 1995 dauerhaft in Sankt Petersburg am Newa-Ufer gegenüber dem Bergbau-Institut (russ.: Gornyj institut), nunmehr als Museumsschiff. Im Jahr 2000, als Ursula Schulz-Dornburg die „Krasin“ besuchte, ereignete sich auch die Tragödie des Atom-U-Bootes „Kursk“, das mitsamt seiner Besatzung in der Barentssee untergegangen ist. Vom Eisbrecher als Symbol der Hoffnung zur U-Boot-Havarie, Metapher für den Untergang des Glaubens auf Rettung – eine symbolische Verdichtung der Geschichte. 

Permafrostboden, schneebedeckte, endlose Weiten und Kälte, die den Tod bringt – das sind die üblichen Klischees, die mit Rußland zuallererst assoziiert werden. Dabei sind nicht nur die klimatischen Besonderheiten dieses Landes gemeint, sondern auch die politische Reaktion und Despotie seiner Herrscher. Aus uralter Gewohnheit führt die Macht einen „Kalten Krieg“ gegen das eigene Volk mit dem Ziel, den Menschen wahres menschliches Empfinden auszutreiben. Zur Rechtfertigung von Unterdrückung und umfassender Zensur charakterisierte Konstantin Pobedonoszew, Ober-Prokuror des Heiligen Synods und einer der übelsten Beamten im Zarenreich, Rußland als eine „endlose Eiswüste, wo der böse Mensch unterwegs ist“. Und damit hatte er zweifellos Recht, ist das Leben im reaktionären Rußland doch vergleichbar mit den extremen Lebensbedingungen auf einer Polarstation: vollkommene Isolation, eine begrenzte Anzahl von Hilfsmitteln, Hunger und beständiger Kampf ums Überleben.

In diesem Zusammenhang kommt den Fotografien, die Ursula Schulz-Dornburg im Museum der Arktis und Antarktis gemacht hat, eine besondere Bedeutung zu. Es befindet sich im Gebäude der ehemaligen Nikolskij-Kirche, die vor der Revolution den Eingläubigen gehörte, einer Gemeinde der Altgläubigen. Bezeichnenderweise wurde das Museum im Jahre 1937 eröffnet, als der Große Terror in vollem Gange war. Auf diesen Abzügen sehen wir Museumsvitrinen mit nachgebildeten Kajüten auf Schiffen und U-Booten mit Kleiderpuppen, die lebendige Menschen ersetzen, und Modelle von Polarstationen mit winzigen Figürchen gesichtsloser Menschen, die in dieser eisigen Unendlichkeit festsitzen.

Militärhistorisches Museum der Artillerie, Pionier- und Kommunikationstruppen, Sankt Petersburg

Auf ihren Streifzügen durch Sankt Petersburg erschlossen sich Ursula Schulz-Dornburg immer neue Geheimnisse der sowjetischen Geschichte. Wie auf Fotografien dieser Ausstellung zu erkennen ist, schaffte sie noch ein weiteres spezielles Museum zu besuchen, das dem Geschäft der Artillerie und den Pioniertruppen gewidmet ist. Untergebracht ist die Sammlung in einer der ältesten Festungsanlagen der Stadt, die noch unter Zar Peter I. errichtet worden war. Schon wieder Krieg, nichts als Krieg: Kanonen, Bomben und Granaten, Minen, nachgebaute Schützengräben, Unterstände und Bunker. Kurz gesagt: eine vollständige Auswahl der Mittel, die es braucht, um Menschen zu töten und Städte zu zerstören sowie alles, was zum Schutz dagegen vonnöten ist. Was könnte absurder und grotesker sein als die Nachbildung einer Mine, eingebunden in ein französisches Buch mit dem Titel „Philosophie de L‘Art“ (sic!) und der ausgestopfte Hund als Todeskandidat, an dem eine Anti-Panzermine befestigt wurde?! Beide Ausstellungsstücke könnte man für Kunstwerke der Moderne halten. Eine Buch-Mine als Verkörperung der Idee von der Explosivkraft der Aufklärung – wenn das keine Ironie ist! Was aber den Hund betrifft, den Sendboten des Todes, so sehen wir hier keinen Zerberus, den schrecklichen Wächter am Eingang des Totenreichs, sondern einen unglücklichen Straßenhund, zu Höllenqualen verdammt aufgrund einer fürchterlichen Dummheit des Menschen namens Krieg. 

Museum der Verteidigung Leningrads.
Museum der Geschichte Sankt Petersburgs.
Ausstellung „Leningrad in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“

Die wichtigste Bilderfolge der Serie „Memoryscapes“ ist sicherlich jene mit Fotografien zu der in ihrer Art einmaligen Ausstellung über „Leningrad in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“ aus dem Museum zur Stadtgeschichte (russ.: Muzej istorij goroda). Die Ausstellung versammelt Objekte, die aus dem vormaligen Museum der Verteidigung Leningrads übergeben wurden, das 1952 in einer unter Stalin üblichen Unterdrückungskampagne auseinandergerissen und geschlossen worden war. Die Geschichte der Entstehung und Schließung des legendären Museums wie auch das Schicksal seines Gründungsdirektors Lew Rakow spiegeln exakt die tragische Geschichte Rußlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere diese Ausstellung fand Aufnahme in die Serie „Memoryscapes“ von Ursula Schulz-Dornburg.

Der talentierte Museumsleiter, Historiker und Dramaturg Lew Rakow war 1904 in Jakutsk als Sohn eines Juristen und einer Studentin der Medizin zur Welt gekommen, die wegen revolutionärer Aktivitäten dort in der Verbannung lebten. Nach einem Jahr freigekommen, zog die Familie nach Petersburg. Kurz vor der Revolution 1917 kam Lew Rakow auf die Realschule; anschließend studierte er ab 1922 an der Petrograder Universität an der Fakultät für Geschichte und Archäologie. Parallel zum Studium arbeitete er im Staatlichen Russischen Museum, wo er vorbereitend an der Ausstellung „Krieg und Kunst“ mitwirkte. Rakow wechselte 1931 an die Staatliche Eremitage, vertiefte sich in die Geschichte des Kriegshandwerks und bereitete große thematische Ausstellungen vor; nebenher hielt er Vorlesungen zur Geschichte der antiken Welt am Leningrader Pädagogischen Institut. Seit 1937 als wissenschaftlicher Sekretär an der Eremitage angestellt, wurde Rakow im Folgejahr, auf dem Höhepunkt des Terrors, aufgrund falscher Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Tätigkeit und Terrorismus verhaftet. In der Einzelhaft entsteht ein Gedichtzyklus; Rakows Selbstmordversuch mißlingt. Als die Säuberungswelle 1939 auch die Spitzen des Innenministeriums NKWD erfaßt und dessen Leiter Nikolai Jeschow hingerichtet wird, kam Rakow wie viele andere frei. Und als Deutschland die Sowjetunion überfiel, meldete er sich als Freiwilliger bei den Leningrader Hilfseinheiten. Während des Krieges blieb er immer in der Stadt, überlebte die furchtbare Blockade der Millionenstadt, die vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 dauerte. Er nahm 1942 und 1943 an mehreren Kämpfen teil, um die Blockade zu durchbrechen. Die größte Tat des Gelehrten war fraglos die Organisation der Ausstellung „Die heroische Verteidigung Leningrads“, die in der belagerten Stadt im Winter 1943 eröffnete. Als Exponate dieser temporären Schau dienten Fragmente zerstörter erbeuteter Waffen des Feindes, die von der Front herbeigeschafft worden waren, ebenso wie erschreckende Zeugnisse des alltäglichen Lebens der Leningrader unter den Bedingungen der Blockade. Im August 1945 besuchten Marschall Schukow und General Eisenhower die Ausstellung. Nach dem Krieg beschlossen die Stadtoberhäupter, die Ausstellung zu einem Museum zu machen, dessen Direktor Rakow wurde. Die feierliche Eröffnung des neuen Museums fand am 17. Mai 1946 statt. Dank seines außergewöhnlichen Organisationstalents schaffte es Lew Rakow in kürzester Zeit nicht nur, eine große Anzahl unterschiedlicher Objekte zusammenzutragen (vieles wurde von Einwohnern übergeben wie das berühmte Tagebuch von Tanja Sawitschewa), sondern er stellte auch ein bemerkenswertes Team zusammen. Leitender Künstler des Museums, der das Projekt zur Gestaltung aller 37 Abteilungen der Ausstellung entwarf, wurde Nikolai Suetin – ein Schüler Kasimir Malewitschs und Mitarbeiter von El Lissitzky bei der Gestaltung vieler internationaler Ausstellungen (darunter der berühmten Pressa, Köln 1928). Suetin war, wie Rakow und alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums, während der Blockade in der Stadt geblieben. In den ersten vier Jahren seiner Existenz hatte das Museum mehr als eine Million Besucher.

In Würdigung seiner Verdienste ernannte die Stadtverwaltung Lew Rakow 1947 zum Direktor der Publitschnaja, der Leningrader Staatsbibliothek. Dieses Amt übte er gleichzeitig mit seiner Funktion als Museumsdirektor aus, bis 1949 eine neue Welle der stalinistischen Repressionen losbrach und eine Spezialkommission aus Moskau eintraf, deren Auftrag darin bestand, Führungspersönlichkeiten in Leningrad zu verfolgen. Im Zuge der sogenannten „Leningrader Affäre“ wurden zahlreiche Vertreter der städtischen Elite verhaftet und erschossen.

Nach einer Durchsicht der Materialien und Zeugnisse zur Arbeit des Museums äußerte die Moskauer Kommission scharfe Kritik an der Darstellung der Kriegsereignisse, die unter dem Strich als „Herabwürdigung der Rolle des Genossen Stalin im Krieg und in der Schlacht um Leningrad“, ja sogar als Versuch gesehen wurde, einen „Mythos über die Blockade zu schaffen“ und „Leningrad eine Sonderrolle zuzuerkennen“. Auf Beschluß der Kommission wurde die Museumstätigkeit 1949 vorübergehend eingestellt. Als dann 1952 die endgültige Auflösung des Museums der Verteidigung erfolgte, wurde ein Teil der Exponate vernichtet, während die übrigen Bestände an Sammlungen anderer städtischer Museen übergeben wurden. Anschließend hat man die Mitarbeiter des Museums absurderweise beschuldigt, einen Anschlag „für den Fall eines Besuches des Genossen Stalin“ vorbereitet zu haben.

Des Weiteren leitete die Kommission eine Untersuchung in der Publitschnaja ein, deren Leitung Rakow innehatte. Wie sich in deren Verlauf herausstellte, entsprach die „inhaltliche Arbeit“ der wichtigsten Abteilungen der Bibliothek „nicht den Forderungen der Partei auf dem Gebiet der ideologischen Arbeit“. 

Dies führte zur neuerlichen Verhaftung Lew Rakows, zur Aberkennung seiner staatsbürgerlichen Rechte und Konfiszierung des Eigentums. Er ist 1950 zum Tode verurteilt worden, doch kurz vor der Hinrichtung wurde das Strafmaß auf 25 Jahre Lagerhaft reduziert. 1951 erfolgte die Verhaftung seiner Frau. Ein Jahr nach dem Tod des Diktators erlebte Rakow 1954 seine Rehabilitation und kam frei. Er kehrte zu seiner Frau zurück, die 1953 entlassen worden war, und lebte in Leningrad, wo er 1970 verstarb.

Während der Perestroika erlebte das verlorene Museum der Verteidigung Leningrads 1989 seine Wiedergeburt. Die Neugründung erfolgte auf Initiative der Stadtgesellschaft am alten Standort zunächst in einem Raum des ansonsten militärisch genutzten Hauses. Zum fünfzigsten Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg wurde 1995 die neue Dauerausstellung vorgestellt – nun schon in mehreren Räumen. Nach dem Auszug der Armee konnte das historische Gebäude bis 2013 denkmalgerecht instandgesetzt werden. Zum Jahrestag der Aufhebung der Blockade besuchte 2023 der Präsident der Russischen Föderation das wiederhergestellte Museum, während das Kriegsgeschehen in der Ukraine in vollem Gange war. 

Doch ungeachtet aller Anstrengungen wird jenes Museum, das Rakow und seine Mitstreiter zustande gebracht hatten und das auf derart zynische Weise nach einer Laune des blutigen Diktators zerstört worden war, nie zurückkehren. Suetins Innenarchitektur wird nicht wiederauferstehen, dasselbe gilt für die Wandbilder des Künstlers Wjatscheslaw Pakulin; nicht zurückkehren werden die Exponate von unschätzbarem Wert, Zeugnisse der schrecklichen Blockadezeit, die bei der Verwüstung des Museums zerstört wurden oder in andere Sammlungen gelangten. Vor allen Dingen jedoch lassen sich der Geist einer echten Tragödie und die wahre Standhaftigkeit des Geistes nicht rekonstruieren, die das einzigartige Museum besaß, das Rakow in der eingeschlossenen Stadt geschaffen hatte. Nicht zufällig wurde es „Museum der Verteidigung“ genannt. Denn die Stadt und ihre Einwohner haben sich nicht allein gegen die Armeen des Feindes verteidigt, sondern gegen den Tod an sich. Die Stadt hielt stand, ungeachtet von Hunger und extremer Kälte im Winter 1941 und 1942, als die Temperaturen unter 30 Grad Minus fielen und täglich Tausende starben. Trotz alledem haben in der Stadt weiterhin Menschen gelebt, wenn auch ohne Heizung, Strom und fließendes Wasser. Gerade jene Totgeweihten, die sich nicht aufgaben, haben überlebt. 

125 Gramm, Sankt Petersburg

In allen Kulturen der Welt besitzt das Brot eine geradezu sakrale Bedeutung. Sehr oft wird es als Metapher für das ewige Leben und die Seele benutzt. Weil die Leningrader Bäckereien während der Blockade nicht ausreichend produzieren konnten, wurden Lebensmittelkarten eingeführt, nach denen die Einwohner der Stadt ihre tägliche Ration zugeteilt bekamen. Die Norm hing von der Kategorie, das heißt von der Einstufung der Bürger ab: Soldaten und Arbeiter bekamen mehr Brot als andere, am wenigsten Nichtberufstätige, unbeschäftigte Pensionäre und Kinder. Zwischen dem 20. November und 25. Dezember 1941 stand besonders wenig Brot zur Verteilung bereit. Entsprechend niedrig fiel die Ration für Arbeiter aus: 250 Gramm. Ohne diese Einstufung gab es nur die Hälfte: 125 Gramm Brot. Jeden Tag bildeten sich vor den Ausgabepunkten lange Schlangen der Hungrigen, die mit begehrlichen Blicken dabei zusahen, wie die Verteiler jene 125 Gramm abgeschnitten und abgewogen haben, die ihnen mehr als nur das tägliche Brot bedeuteten. Dieses enthielt übrigens weniger Mehl als Ersatzstoffe wie etwa Ölfrüchte, Kleie, Zellulose, Knochenmehl usw. Das dürftige Kalorienangebot reichte nicht, um dem Organismus die erforderliche Energie zuzuführen. Alles zusammen führte zu einem starken Anstieg der Sterblichkeit im Winter des Jahres 1941, als allein im Dezember etwa fünfzigtausend Leningrader den Hungertod starben. Gestorben wurde aus Brotmangel, es fehlte jedoch auch an geistiger Nahrung.

 

Kinderspielzeug, Sankt Petersburg

Unter den ausgestellten Exponaten dieses Museums gibt es sehr viele Kindersachen: Puppen, Spielzeug, Wagen, Schlitten. Einiges davon ist weiter Spielzeug geblieben, wie der Plüschbär eines namenlosen Kleinkindes, dessen Schicksal wir nicht kennen. Manches Spielzeug wurde zum Erwachsenendasein gezwungen, wie seine kleinen Besitzer. Im Leningrader Blockadealltag dienten Kinderschlitten nicht zum fröhlichen Rodeln, denn sie waren im Winter das wichtigste Transportmittel. Auf ihnen wurden die Blechkannen mit Wasser befördert, das aus Eislöchern auf den Leningrader Wasserwegen geschöpft wurde, und wer noch die nötige Kraft dazu besaß, benutzte den Schlitten, um die Leichname seiner Angehörigen auf den Friedhof zu bringen. Auf den Fotografien von Ursula Schulz-Dornburg sehen die Kinderschlitten wie Fundstücke aus, die bei Ausgrabungen in uralten Kurganen gefunden wurden.

Das Tagebuch der Tanja Sawitschewa, Sankt Petersburg

Zu den wichtigsten Exponaten des Museums zählt das Tagebuch der Leningrader Schülerin Tanja Sawitschewa, das Aufzeichnungen vom Dezember 1941 bis Mai 1942 enthält. Es finden sich darin nur neun Eintragungen; jede von ihnen auf der leeren Seite eines Notizbuchs für Telefonnummern. Die letzten drei sind neben den kyrillischen Register-Buchstaben für „S“, „U“ und „O“ notiert, was ihren Aussagen entspricht: für „Sawitschews“, „gestorben“ (russ.: umerli) beziehungsweise „übriggeblieben“ (russ.: ostalas´).


Schenja starb am 28. Dezember um 12 vormittags 1941. 
Oma starb am 25. Januar, 3 Uhr nachmittags 1942.
Ljocka starb am 17. März um 5 Uhr vormittags 1942. 
Onkel Wasja starb am 13. April um 2 Uhr nach Mitternacht 1942.
Onkel Ljoscha am 10. Mai um 4 Uhr nachmittags 1942. 
Mutter am 13. Mai um 7.30 vormittags 1942.
Die Sawitschews sind tot.
Alle sind tot. 

Nur Tanja ist übriggeblieben.

Sie fand zunächst Aufnahme bei Verwandten, die Tanja später in ein Kinderasyl des NKWD brachten; schließlich gelang ihr die Evakuierung aus der belagerten Stadt. Das hat sie nicht retten können. Das Mädchen starb 1944 im Alter von 14 Jahren an Tuberkulose und den Folgen des Hungers, der ihren Organismus geschwächt hatte. 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hing am Haus, wo die Sawitschews gelebt haben, gleich neben der Gedenktafel eine Werbeanzeige für die leer stehende Wohnung. Vor Kurzen zog dort ein kleiner privater Kindergarten ein.

„Besichtigung“

Die Säle sind angeordnet wie ein Labyrinth, das den Besucher immer tiefer in das Museum hineinzieht. Irgendwann verliert der Betrachter die Orientierung und geht völlig in dieser imitierten Gegenwart der furchtbaren Tage der Blockade auf. Die sich bemerkbar machende Kälte – das Museum wird in der Wintersaison nicht geheizt – verstärkt den authentischen Eindruck noch. Die Seele löst sich vom Körper und beginnt ihre Reise in die jenseitige Welt. Am Ende dieser Wanderung, an der letzten Station am Ausgang, hängt eine Tafel mit der Aufschrift „Ende der Besichtigung“. „Besichtigung“ steht da, nicht etwa „Rundgang“, „Weg“ oder „Ausstellung“. Denn anders ist diese Reise wohl kaum zu nennen. Man muß selber herkommen und es mit eigenen Augen gesehen haben. Unter der Tafel gleich neben der Tür steht ein verlassener Stuhl – die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Diese unheimliche Leere könnte gleichsam eine stumme Warnung sein: Alles das kann sich wiederholen .

 


Aus dem Russischen von Christian Hufen