VERSCHWUNDENE LANDSCHAFTEN

Shatt al-Gharraf, Marsh Arabs
Irak, 1980

Julian Heynen: Die Kultur dieser Marschlandschaft, ihre Menschen, ihre Schilfbauten, existieren nicht mehr. In der Geschichte der Fotografie kommt es immer wieder vor, dass Dinge zu einem Zeitpunkt „entdeckt“ und dokumentiert werden, kurz bevor sie verschwinden. Eine bewusste oder unbewusste Trauerarbeit, könnte man sagen.

Ursula Schulz-Dornburg: Mir war bewusst, dass die Marschkultur aus politischen Gründen verschwinden würde. Das war ein wichtiger Grund dorthin zu fahren und Aufnahmen zu machen.

JH: Es gibt in dieser Werkgruppe nicht nur Aufnahmen der eigentlichen Marschkultur, sondern auch von Lehmbauten.

USD: Mir war nicht zuletzt der Weg wichtig, der in der Folge der Bilder nachvollzogen wird: Von den Lehmbauten am Shatt al-Gharraf zu den Schilfbauten im Marschland weiter südlich.

JH: Die Bilder von dort sind vergleichsweise narrativ und im engeren Sinn dokumentarisch. Mit Ausnahme der Bushaltestellen in Armenien und der Metro Sankt Petersburg kommen in den meisten anderen Werkgruppen keine Menschen vor. Hier allerdings schon. Wie siehst du das Verhältnis Mensch – Landschaft oder Mensch – Natur in diesen Bildern ?

USD: Für mich war in den sechziger und siebziger Jahren das Buch Architecture Without Architects (1964) von Bernard Rudofsky (1905–1988) eine Art Bibel. Was mich im Irak fasziniert hat, war, dass es diese Schilfarchitekturen schon seit Jahrtausenden gab. Uralt an ihnen sind das Wissen um Funktion und Material und die Formvorstellungen, die sich in Anpassung an die speziellen Lebensbedingungen am und auf dem Wasser gebildet haben. Die konkreten Gebäude dagegen sind aufgrund ihres vergänglichen Materials und des Elements, in dem sie sich befinden, ephemer. Es geht mir aber auch noch um etwas ganz anderes. Es gibt ein Foto, das zeigt eine kleine, umzäunte Feldparzelle (Abb. S. 95). So etwas ist für mich – ganz abgesehen von seiner Funktion oder historischen Bedeutung – ein Kunstwerk.

JH: Vom festen Land zum fließenden Land … Das bringt mich auf die teilweise sehr weiten Wasseroberflächen, die in manchen Bildern das eigentliche Thema zu sein scheinen. Kann man sie zu den sandigen Ebenen der verschiedenen Wüsten in Beziehung setzen, die du aufgenommen hast ?

USD: Die Situation ist anders, aber auch ähnlich. Man sieht eigentlich „nichts“, dann aber bemerkt man, wie da und dort das Schilf langsam unter der Wasseroberfläche hervorkommt. Und ähnlich wie bei den Zikkurats kann man am Horizont manchmal schon die Schilfhäuser ahnen. Darin steckt eine Art Suggestion, dass etwas – dass Architektur – im Entstehen ist.

 


„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018