VERSCHWUNDENE LANDSCHAFTEN

Mesopotamien
Irak, 1980

Julian Heynen: Viele dieser Bilder zeigen scheinbar nur die Wüste mit ihrer trockenen, geborstenen Oberfläche. Und doch hat man den Eindruck, dass es hier um bestimmte Orte geht. Was sind das für Stellen? Was waren die Gründe, gerade dieses Nirgendwo in dem großen Nirgendwo aufzunehmen?

Ursula Schulz-Dornburg: Es war der Versuch, unter erschwerten Bedingungen in der Zeit kurz vor dem Irak-Iran-Krieg, dem Ersten Golfkrieg, an die historischen Stätten des sumerischen Reiches, etwa das alte Eridu, an Uruk oder Ur heranzukommen. Ich habe das Gelände rund um die Ruinen der Zikkurats durchstreift. Bei näherem Hinsehen ist die Oberfläche sehr lebendig. An manchen Stellen ist sie aufgebrochen und es treten Scherben zutage, mitunter auch solche mit Keilschriften. Es gibt mehr oder weniger vollständige Keramikgefäße, und man denkt daran, wie die Menschen damals ihren Weizen oder ihre Gerste darin aufgehoben haben. Wenn man sich auf das Nirgendwo, wie du sagst, einlässt, hat dieser Boden eine ungeheure Lebendigkeit. Man reflektiert nicht nur die Vertikale der Zeitachse zurück durch die vielen Jahrtausende, sondern sieht auch in der aktuellen Horizontalen sehr viele erstaunlich konkrete Dinge.

JH: Wenn man die Bilder betrachtet, sieht man Strukturen, die man als Spuren von etwas liest, das dort einmal gewesen ist. Man weiß vielleicht etwas von der Geschichte, aber im Wesentlichen sind die Spuren Anlass zu spekulieren oder, etwas neutraler ausgedrückt, zu imaginieren.

USD: Es braucht natürlich einen guten Anteil an Fantasie, um das, was man weiß, an diesen eher abstrakten Strukturen festzumachen.

JH: Du hast die vertikale Achse der Zeit schon angesprochen. Bei diesen Bildern reicht sie über eine sehr weite Strecke von der sumerischen Kultur im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung …

USD: … von Gilgamesch, wenn man so will …

JH: … bis in die unmittelbare Gegenwart der Kriege in diesem Teil der Welt. Die Zeit, die du selbst mitbringst an solche historischen Orte, scheint dir wichtig zu sein, wie eine Art Anker der fotografischen Unternehmung.

USD: Bei diesen Bildern war es die deutlich spürbare Atmosphäre kurz vor einem Krieg, das Wissen um die Gefährdung einer langen Geschichte an diesen Orten, die Ahnung, dass Strukturen, Objekte beschädigt oder zerstört werden.

JH: Was sind das für Gebäudereste auf den anderen Bildern dieser Werkgruppe?

USD: Das sind die dort noch vorhandenen Zikkurats, die Tempel. Man sieht teilweise aber auch die Spuren der Archäologen, die sie freigelegt haben. Es ist zum Beispiel eine kleine Ausgrabungsstelle in Ur zu erkennen, eine Stelle, von der es heißt, dass dort Abraham begraben sei.

JH: Auf der einen Seite also sichtbare, manifeste Zeugen der damaligen Kultur, auf der anderen das scheinbare Nichts der Umgebung mit kaum wahrnehmbaren Spuren.

USD: Man kann allerdings am Horizont dieser Wüste im Dunst mitunter einen Tempel erkennen. Dieses Umgehen der Monumente im wörtlichen und im übertragenen Sinn ist ein wichtiger Aspekt der Bilder.

 

„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018