GANZ NAH AM MENSCHEN
REISEN ZEITEN, ORTE, SPUREN. 
Zu den Serien von Ursula Schulz-Dornburg

Martin Zimmermann

Abb. 1: Babylonische Tafel, allgemein bekannt als Map of the World, Harzabguss aus dem Jahr 2014, 12 x 8,4 x 2,2 cm, The British Museum, London
Copyright: © The Trustees of the British Museum

Eine autobiografische Notiz soll am Anfang stehen, um verständlich zu machen, welchen Blick ich auf die fotografischen Serien von Ursula Schulz-Dornburg habe. Viele Gedanken gehen auf Gespräche zurück, die wir miteinander führten und in denen wir in unseren jeweiligen Erzählungen gemeinsam die Länder bereisten, in denen wir beide gearbeitet haben. Um anknüpfend an diesen Austausch über Reisen, Zeiten, Orte und Spuren in den Fotografien Ursula Schulz-Dornburgs schreiben zu können, möchte ich mit einem eigentümlichen Ort im Südirak beginnen. Der Ort und die von ihm zu erzählenden Geschichten stehen stellvertretend für eine Sichtweise auf die Welt, die uns freundschaftlich verbindet.

Es handelt sich um einen Ruinenhügel am Euphrat, 200 Kilometer nordwest­lich von Basra und unweit des kleinen Städtchens Nasiriya. Auf ihm befinden sich die Überreste der alten sumerischen Stadt Eridu, die einst im 6. Jahr­tausend v. Chr. entstand und für mehrere Tausend Jahre als Urstadt der Menschheit galt. Sie besaß seit dieser Zeit einen Tempel für den Gott Enki. Diese Gottheit galt als Gott der Weisheit, der einst das Wasser nach Mesopotamien gebracht hatte. Bilder aus jener Epoche zeigten Bilder von Enki, auf denen aus den Schultern die Flüsse Tigris und Euphrat entsprangen. In Eridu hatten nach sumerischer Vorstellung die Geschichte der Menschheit und der Wohlstand des Zweistromlandes ihren Ursprung. Nachdem sich ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. die mesopotamische Stadtkultur entwickelte, wanderte in den folgenden Jahrtausenden das Zentrum weiter nach Norden bis nach Babylon. Eridu zerfiel, und nur mehr Spuren ihrer einstigen Größe zeichnen sich heute im Boden ab. Zur Spätzeit Eridus entstand im 8. Jahrhundert in Babylon eine Weltkarte (Abb. 1), die sich heute im British Museum befindet. Sie zeigt eine kreisrunde Welt, die vom Weltmeer, dem sauren Fluss (marratu), umgeben ist, über den Inseln und Regionen in die mythische Sphäre hinausragen. Im Inneren sind auf einem zentralen Kontinent der Euphrat und verschiedene Städte zu sehen, unter denen Babylon als Zentrum markiert ist.

Das nahe dem Ruinenhügel gelegene Städtchen Nasiriya machte im ersten Jahr des Zweiten Irakkrieges spektakuläre Schlagzeilen. Am 23. März 2003 geriet eine amerikanische Einheit in einen Hinterhalt, wobei mehrere Soldaten starben oder verwundet wurden. Zu ihnen gehörte die 19-jährige Jessica Lynch. Sie wurde neun Tage später von einer Spezialeinheit aus einem Krankenhaus befreit und in ihrer Heimat als nationale Ikone weiblicher Tapferkeit gefeiert. Wenige Monate später musste allerdings eine Kommission zugeben, dass die Geschichte um die junge Soldatin anders verlaufen war, als zunächst der Presse kommuniziert. Sie hatte kein Martyrium erlitten, sondern die Iraker hatten sich um sie gekümmert und ihr das Leben gerettet. 2007 warf schließlich Jessica Lynch bei einer Anhörung im Kongress dem Pentagon vor, man habe Propagandalügen über sie und die Iraker verbreitet.

Ein Jahr nach dieser Anhörung, im Juni des Jahres 2008, flog ein internationales Team von Wissenschaftlern vom britischen Luftstützpunkt in Basra aus mit einem Helikopter nach Eridu, um zu schauen, welche Folgen der Irakkrieg für die antiken Ruinenhügel der Region hatte. Die Gruppe der Wissenschaftler wurde geleitet von John Curtis, seinerzeit zuständig für die Altertümer im British Museum in London. Die Fotos, die man auf der Webseite des British Museum veröffentlichte, zeigen einen von Erosion gezeichneten, trostlosen Siedlungshügel inmitten einer weiten Wüstenlandschaft. Man muss in der Zeit weit zurückgehen, um sich ausmalen zu können, dass hier einst eine Stadt in wundervoller, von vielfältiger Vegetation geprägter Landschaft existierte. Der nahe gelegene See von Hammar und die Marschlandschaften am Persischen Golf gelten als antikes Vorbild für die Beschreibung des Gartens Eden in der Bibel. Nach dem Ersten Irakkrieg setzte jedoch eine dramatische Veränderung ein. Als die Vereinigten Staaten 1991 in diesen Krieg eintraten, fühlten sich die Schiiten in den Marschlandschaften ermuntert, einen Aufstand gegen das sunnitische Regime Saddam Husseins zu wagen. Dieser schlug brutal zurück. Neben entsetzlichen Massakern an der Zivilbevölkerung zählte zu seiner Vergeltung die Entwässerung der Marschlandschaft durch den Bau zweier Kanäle, die das Flusswasser direkt in den Persischen Golf leiteten. Die ansässige Bevölkerung wanderte angesichts der Austrocknung der Marschen ab, Pflanzen und Tierwelt wurden zerstört. Als beim Sturz Saddam Husseins 2003 die Kanäle durchstochen wurden und die Marschlandschaft wieder bewässert werden konnte, kehrte nur ein Bruchteil der ehemaligen Bevölkerung zurück, Flora und Fauna erholen sich kaum. „Das Paradies ist hier nicht mehr“ titelte am 26.11.2014 die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

 

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Diese Kombination einer Erzählung, die durch die Jahrtausende führt, mit einem Blick auf einige Episoden der Zeitgeschichte sind ein Zugang zu dieser Region, der mich mit der Künstlerin verbindet. Wir teilen, wie sich in vielen Gesprächen ergeben hat, zum einen das Interesse an Spuren, welche die Menschen in langen historischen Prozessen in der Landschaft und an Orten hinterlassen haben, und zum anderen die Aufmerksamkeit für die aktuelle Situation. So haben mich bei meinen archäologischen Forschungen in ver­schiedenen Regionen der Türkei, bei denen ich in sogenannten archäologischen Surveys allein die an der Oberfläche sichtbaren Überreste vergangener Zeiten dokumentierte, die Zeitschichten, ihre Ordnungen und ihre Rekonstruktion fasziniert. Ich lese bei meiner Forschung die Erdoberfläche gewissermaßen als Palimpsest der menschlichen Siedlungsgeschichte. Zugleich beeindruckt mich auch, was ich bei diesem Blick in die Geschichte von 3000 Jahren parallel darüber erfahre, was die dort heute lebende Bevölkerung beschäftigt und welche ihre aktuellen Nöte sind. Als Experte für die Geschichte der Antike richte ich den Blick auch auf zeitgeschichtliche Dinge, die zunächst keinen erkennbaren Zusammenhang mit anderen historischen Schichten und Ereignissen der Antike und des Mittelalters haben. Die blutige Rache Saddam Husseins, das Schicksal Jessica Lynchs und die Expedition des British Museum lassen sich nicht unmittelbar mit der Geschichte des antiken Eridu verknüpfen, aber zumindest mit den Spuren, welche die Stadt in der Landschaft hinterlassen hat. Solche Ereignisse sind verschiedene Teile der langen Geschichte, für die man Aufmerksamkeit haben sollte. Da eine große Meistererzählung nicht möglich ist, sollte man auch als Historiker das Fragment zum Gegenstand der Betrachtung machen. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, welchen Platz es im Allgemeinen hat. Und wenn man diesen Platz nicht sofort erkennt, das Fragment gar bezugslos wirkt, sollte es als Gegenstand nicht verworfen werden. Auf diese Weise entstehen Betrachtungen, Beschreibungen und eben Bilder, welche die Vieldeutigkeit menschlicher Existenz und Geschichte spiegeln. Sie geben dem Leser und Betrachter die Möglichkeit, selbst Verbindungen zu ­ziehen und am Stoff historischer Erinnerung mitzuweben.

 

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Solche verwobenen Netzstrukturen der Erinnerung lassen sich auch bei einem Blick auf das Werk von Ursula Schulz-Dornburg erkennen. Über viele Jahre wahrgenommene und fotografierte Orte sind hier miteinander verflochten, was ich anhand weniger ausgewählter Serien vor Augen führen möchte.

Als sie im April 1980 die Landschaften von Euphrat und Tigris bereiste, kurz bevor im September desselben Jahres der Erste Golfkrieg zwischen Irak und Iran ausbrach, entstand zunächst eine Reihe von Fotografien uralter Siedlungshügel. Die Bilder sind geprägt von einer Aufmerksamkeit für die Spuren der Geschichte an den verschiedenen Orten in einer auf den ersten Blick öden und trockenen Landschaft – Wege, Gebäudereste, Keramikscherben, Gräber alter Kulturen und viele andere Details. Neben den uralten Siedlungsresten im Euphrattal galt ihr Interesse bei der Reise im Jahr 1980 den oben erwähnten Marschlandschaften am Persischen Golf. Mit Blick auf die Katas­trophe nach 1991 gab sie der Serie 2002 den Titel Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs. Die Bilder zeigen die alte, noch intakte Marschlandschaft mit Schilf und unendlichem Wasserreichtum. Mit natürlichen Materialien errichtete, archaisch anmutende Wohn- und Speicherhäuser verleihen den Landschaften eine überzeitliche Wirkung. Durch eine Horizontführung nahe der Bildmitte und die wiederholte Spiegelung sehr heller Wasser- und Himmelsflächen wird eine luftig-magische Atmosphäre unendlicher Ruhe erzeugt. Bauten, Schilf, Boote und Siedlungen scheinen stillzustehen. Auch die wenigen Personen, die in der Ferne oder in Nahsicht begegnen, strahlen eine ernste und konzentrierte Ruhe aus, die sie aus der Zeit hebt. Trotzdem stellt man diese unwillkürlich in einen direkten Bezug zu den gezeigten Schilfhäusern, deren inneren Geheimnisse verborgen bleiben. Einige Innenaufnahmen der Gebäude erscheinen als behaglicher Wohnraum mit einer durch die Lichtführung der Fenster geradezu sakral anmutenden Atmosphäre. Diese Kombination von Horizontlinie, Schilf, Wasser und Bauten vermittelt trotz der wenigen und in großer Distanz zu sehenden Personen eine kraftvolle Nähe zu den Menschen. Der Horizont, so die Künstlerin in einem Text aus dem Jahr 2002, sei für sie die Nulllinie der Menschheit. Der durchaus verstörende, paradoxe Eindruck, den die beinahe menschenleere Serie Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs erweckt, beruht exakt auf der Verbildlichung dieser Aussage. Unmittelbar spürbar ist die Aufforderung, sich das Leben der Menschen in dieser Landschaft zu vergegenwärtigen.

Abb. 2: Julia Schulz-­Dornburg: Ewiger Weizen, Genbank Braunschweig; Vavilov Institut, St. Petersburg, 1995 (Detail)
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

Der Betrachter wird durch solche Landschaftsfotos von dieser Region am Euphrat und in Saudi-Arabien angeregt, durchaus demütig in die Ewigkeit der Orte zu schauen und die Flüchtigkeit der zarten historischen Spuren wahrzunehmen, die Menschen darin hinterlassen haben. Die Bedeutung der Ewigkeit für Ursula Schulz-Dornburg wird sichtbar in den 2006 entstandenen Fotos vom Ararat, die sie von Khor Virap in Armenien aus aufgenommen hat. Der Berg ist ein Zeichen der ewigen Standhaftigkeit trotz wechselvoller Geschichte, von Noahs Arche und seiner Erwähnung in altorientalischen Epen über die Christianisierung, die Tragödie des Genozids an den Armeniern bis in die heutige Zeit. Ständig sich wandelnd in Licht, Wolken und Eis, scheint sich der Berg – gesehen durch das Auge der Fotografin und die Kamera – als unerreichbares Monument der Natur zu inszenieren. Eine ebenso starke Intensität inszenierte Ursula Schulz-Dornburg buchstäblich im Kleinen. Die Serie ­Ewiger Weizen (1995, Abb. 2), die einzige Installation unter ihren Arbeiten, zeigt Nahaufnahmen von Weizenkörnern und Ähren. In der Samensammlung von Sankt Petersburg sind viele Tausend Jahre menschlicher Ernährungs- und Ackerbaugeschichte dokumentiert. Die erotische Dimension der fotografierten Kornstrukturen, die an ein weibliches Geschlecht erinnern, und die betörende Architektur der Ähren spiegeln eine ursprünglich historische Vielfalt, die nur mehr in Blechschachteln sortiert erhalten ist. Ein einzigartiges Archiv von Spuren, die Menschen in den Landschaften der Welt hinterlassen haben, als sie versuchten, sich Nahrung zu verschaffen.

Diese Erkundung der Spuren menschlicher Geschichte fand 1991/92 eine beeindruckende Form in einem ganz andersartigen Projekt mit dem Titel Sonnen­stand . Hier wurde die Nulllinie des Horizonts durch einen geschlossenen Raum ersetzt und der Lauf der Zeit, die Vergänglichkeit, zum zentralen Gegenstand. Aus der Zeitlosigkeit der Landschaften Mesopotamiens werden im Projekt Sonnenstand leuchtende Lichtspots in kleinen Kapellen, die einst in den Pyrenäen entlang des Jakobsweges errichtet wurden. Das Licht, das durch kleine Fenster im oberen Teil der Apsiden die Kapellenräume erhellt, markiert durch den Einfallswinkel die jeweilige Tageszeit. Auf diese Weise lässt sich der Lauf des Tages auf verschiedenen Fotos abbilden. Gleiches gilt für das komplette Jahr, dessen Verlauf an unterschiedlich hohen Lichtständen nachvollzogen werden kann. Die Serie ist in ihrer Gesamtheit von mysteriöser Dramatik. Wie in den weiten Landschaften Mesopotamiens gilt auch in diesen geschlossenen Räumen: Die Nähe des Menschen ist eindringlich spürbar. Er ist es, der die Architekturen gebaut hat, er ist es, der den Zeitlauf im Lichtkegel erkennt. Der Mensch allein hat den Raum und die Bedingungen geschaffen, diesen in christlicher Versenkung oder eben mit fotografischem Blick wahrzunehmen. Ohne ihn gäbe es den Sonnenstand nicht. Es erscheint folgerichtig, dass Ursula Schulz-Dornburg daran anschließend mit 15 Kilometer entlang der georgisch-aserbaidschanischen Grenze (1998/99, Abb. S. 161–176) die menschliche Konstruktion von Raum in anderer Dimension ausgelotet hat. Aus dem Fels geschlagene Mönchsgrotten im altarmenischen Kaukasus zeigen Meißelspuren, Wandnischen und eine porös anmutende Oberfläche der nur grob geglätteten Felswände mit eigentümlichen Lichteffekten. Anders als in den christlichen Kapellen in Spanien wird der Blick nicht so sehr auf das Licht und die Zeit konzentriert, sondern vielmehr auf den Raum und seine künstliche, mit großer Kraftanstrengung von Menschenhand geschaffene Gestalt.

Die in der gleichzeitig entstandenen Serie Transit Orte, Armenien abgebildeten Bushaltestellen in Armenien wirken wie menschliche Zeichen, die wie Fremdkörper in die oft trostlose Landschaft und den sie unmittelbar umgebenden Raum gesetzt wurden. Diese Bauten lassen Orte entstehen, deren Funktion sich dem ortsfremden Betrachter nicht sofort erschließt. Auf einigen Bildern sind jedoch Menschen zu sehen, denen diese architektonischen Markierungen offensichtlich eine nicht hinterfragte Orien­tierung für ihre Bewegung im Raum geben. Der Fotografin zugewandt und offen in die Linse blickend, strahlen sie eine Selbstgewissheit, Sicherheit und sogar Eleganz aus, die in unmittelbarem Kontrast zu den ruinösen und teilweise verfallenen Bushaltestellen stehen. Der Gegensatz zwischen den sowjetischen Beton- und Stahlbauten und der Selbstgewissheit der Menschen lässt unwillkürlich die Frage aufkommen, was eigentlich ihr alltägliches Leben jenseits der Bushaltestellen ausmacht? Der Ort, an dem sie warten, scheint keine besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Er spiegelt, was Robert Musil 1936 in seinem Nachlass zu Lebzeiten geschrieben hat: dass bei allen Menschen „die Kulisse unseres Bewusstseins die Fähigkeit verliert, in diesem Bewusstsein eine Rolle zu spielen“. Ursula Schulz-Dornburg gibt den Wartenden gewissermaßen durch ihre Bilder einen Ort zurück, für den sie längst die Aufmerksamkeit verloren haben, da er selbstverständlicher Teil ihres Alltags geworden ist. Ähnlich wie bei diesen Wartenden erfährt der Betrachter der Menschen auf Rolltreppen in Sankt Petersburg (Ploschtschad Wosstanija – Platz des Auf­standes, 2000, Abb. S. 189–196) nichts über deren Herkunft und Ziel. Auch sie scheinen aus der Zeit gefallen – bisweilen lässt sich nicht einmal klar erkennen, ob sie hinauf- oder hinabfahren.

Die Rückkehr eines Ortes in das Bewusstsein lässt sich durch Erzählung erreichen oder indem man Erinnerungslandschaften schafft, wie die Serie ­Memory­scapes, St. Petersburg. Im Arktis-­Antarktis-Museum in Sankt Petersburg erinnern Dioramen an eine spektakuläre Not­rettung. Ursula Schulz-Dornburg hat diese nachgestellten Szenen mit einer kleinen Amateurkamera fotografiert und stark vergrößert. Die so entstandene Unschärfe erweckt den Eindruck, nicht die Inszenierung, sondern die reale Landschaft der Arktis selbst sei abgebildet. Wie die Fotografin bekennt, riefen die Szenen Erinnerungen aus der eigenen Kindheit an das letzte Kriegsjahr 1944/45 wach: Bilder von Verwundeten und Zeltplanen im Schnee. Hinzu kamen erinnerte Bilder aus Spielfilmen der 1920er- und 1930er-Jahre, die im Eis der Bergwelten am Mont Blanc oder Piz Palü spielten. Durch die Verbindung innerer und äußerer Erinnerungslandschaften entstanden auf den Fotos faszinierende neuartige Landschaften auf einer anderen Ebene.

 

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Abb. 3 Ursula Schulz-Dornburg: Pagan, Burma, 1978; 35.3 × 38.4 cm, Gelatin silver print
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

Getreidekörner und Ähren, Felshöhlen, weite Landschaften, kleine Kapellen, Buddha-Bildnisse (Abb. 3), religiöse Bauten in Sulawesi, Grabbauten bei Palmyra, Bushaltestellen, Gebäude im Atomwaffentestgelände bei Semipalatinsk, Passanten auf Rolltreppen und vieles andere, das hier gar nicht alles aufgezählt werden kann – die thematische Vielfalt der Serien von Ursula Schulz-Dornburg ist beeindruckend. Und dennoch gibt es, wie bereits mehrfach angesprochen, inhaltliche Klammern und Bezüge. Da ist zum einen das Reisen, das häufige Unterwegssein in Ost- und Zentralasien, Mesopotamien und Spanien. Die Entfernung, der Raum und das unbekannte Fremde ermöglichen eine Wahrnehmung, die in der bekannten, alltäglichen Umgebung ausgeschlossen ist. Ich weiß aus Planungen einer gemeinsamen Reise, dass Ursula Schulz-Dornburg sich bei der Erkundung unbekannter Orte viel Zeit nimmt, sich buchstäblich umsichtig im unbekannten Raum orientiert und die unterschiedlichen Lichtsituationen studiert.

Allen Projekten ist zum anderen gemeinsam, dass in den Landschaften, den Architekturen und selbst in den Bildern vom Getreide der Mensch im Mittelpunkt steht. Es sind seine Räume und seine Spuren, denen sie nachspürt und die sie versucht, ins Bild zu setzen. Dahinter steht etwas, das sie selbst einmal ihr „Paralleluniversum“ genannt hat. Gemeint ist ihr soziales Engagement, das sie in den 1970er- und 1980er-Jahren auf Abenteuerspielplätze in Amsterdam und in den Alltag von Heroinabhängigen führte, und das sie bis heute aktiv lebt. Mit wacher Aufmerksamkeit beobachtet sie die sozialen Verwerfungen unserer Lebenswelt und kann sich im Gespräch sehr über Ungerechtig­keiten und menschliche Irrwege empören. Die alten archivierten Getreide­ähren und die prekären Bauten im Atomwaffentestgelände (Chagan und Opytnoe Pole, beide 2012) sind zwei Beispiele, anhand derer sie solche Abwege dokumentiert: am Verlust lebendiger Vielfalt und am Schrecken militärischer Architekturen.

Abb. 4: Die mit Erläuterungen gemäß dem Sykes-Picot-Abkommen von 1915/16 versehene Map of Eastern Turkey in Asia, Syria and Western Persia. London: Royal Geographical Society,

Nach ihren Reisen in Mesopotamien und angesichts der Kriege dort erschüttert sie im historischen Rückblick die Art und Weise, wie im Ersten Weltkrieg der Nahe Osten nach Zerfall des Osmanischen Reiches zwischen Briten und Franzosen aufgeteilt wurde und welche dramatischen Folgen dies bis heute hat. Mark Sykes und François Picot einigten sich 1915 auf einen von Sykes gezeichneten Strich als Grenzlinie vom Mittelmeer bis in das westliche Mesopotamien: Der Norden sollte an Frankreich fallen, der Süden an Großbritannien (Abb. 4). Die dabei gezogenen Grenzen gelten bis heute und hatten zur Folge, dass andauernde Konflikte entstanden. Die oben erwähnte alte Babylonische Weltkarte wurde gewissermaßen in der Mitte durchschnitten, und die 2003 vorgenommene Aufteilung des Iraks im Irakkrieg knüpfte an diese alte britische Linie an. Ursula Schulz-Dornburg erinnerte mich angesichts dieser Episode mit Mark Sykes an den Vertrag von Tordesillas im Jahr 1494. Portugal und Spanien teilten damals durch eine Linie vom Nord- zum Südpol den Erdball in eine spanische und eine portugiesische Hälfte – ebenfalls ein irritierender Akt menschlicher Selbstüberschätzung und politischer Arroganz.

Es verwundert nicht, dass sich dieser sozial wie politisch interessierte Blick auf die Welt auch in den Serien der Fotografin spiegelt. Zu den vielfältigen Schichten, bestehend aus Raum, Architektur, Geschichte, Menschen und den Spuren, die sie überall hinterlassen haben, kommt das Wechselspiel zwischen Innen und Außen hinzu – und dies in einem doppelten Sinne. Die Künstlerin selbst registriert zum einen in dem Außen etwas, das aus ihrem Inneren kommt und auf prägenden Erfahrungen und eigenen Erinnerungslandschaften beruht. Zum anderen versucht sie, das Innere des Gesehenen zu erschließen, sichtbar zu machen und einen äußeren Standpunkt zu finden.

Der Betrachter kann bisweilen den Eindruck haben, dass ihm ein Ort, ein Raum und eine Landschaft als Archetypus auf eigenartige Weise vertraut sei. Oder er ist ebenso überrascht von dem Fremden, das er auf den ersten Blick nicht versteht, aber in den eigenen Erfahrungshorizont einordnen möchte. Dazu muss er viele Schichten abtragen und Bezüge erkennen, die in den Bildern angelegt sind. Das künstlerische Verdienst der Arbeiten von Ursula Schulz-Dornburg liegt nicht zuletzt darin: Nah am Menschen zu sein und dem Betrachter die Komplexität menschlicher Orte zu vermitteln, ihn in eine Sehschule für diese Orte, aber auch für die eigene Alltagswelt zu schicken.