BUSHALTESTELLEN IN ARMENIEN
I’m waiting, not waiting. I’m there
(Robert Lax)
Sie gehören zu den Allerweltssachen, fallen vielleicht keinem der täglich hier Wartenden besonders auf, und wohl kaum einem Reisenden. Bushaltestellen in Armenien, dem ältesten christlichen Land der Welt, von dem heute kaum jemand mehr so recht weiß, wohin es gehört. Architekturen aus den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der heroischen Zeit sozialistischen Bauens. Sie stehen allein, keine sieht aus wie die andere. An Strecken, die Orte mit uns völlig unbekannten und schwer auszusprechenden Namen verbinden. Aufgereiht an der Straße, entlang des Horizonts. Der Horizont eröffnet oben und unten. Diese Straße führt von Goris nach Khndsorek.
Sie stehen daneben, am Rand, oder dazwischen. So, wie die Fotografien sie zeigen, stehen sie ganz für sich, und zugleich in einem klaren und strengen Bezug. Tageszeit, Wetter, Licht, ein diffuses Streulicht: in Schwarzweiß werden die kleinen Architekturen des Wartens auf die Topographie von Siedlungsrand, Bergzug in der Ferne, Straße im Vordergrund bezogen und dadurch verdichtet, deutlich zu sich selbst gebracht. In minimalistischer Strenge spannt die fotografische Intervention den Bogen von den Warteplätzen über die Weite von Niemandsland und Steppe hinweg bis zum Horizont. So, dass sich von der Horizontlinie her – in der Bildmitte verlaufend, leicht darunter, oder leicht darüber – der Bildraum entfaltet. Dergestalt manifestiert sich im Bild eine durchdringende Korrespondenz der Dinge, eine Architektur anderer Ordnung: ein Ort.
Der Neurologe Wolf Singer hat die komplexen Interaktionsgeflechte von Hochhäusern mit den hoch organisierten Strukturen und Prozessen des Gehirns verglichen. Kann man Körper-Analogie entsprechend zu den Haltestellen ziehen? Die Parameter der Architektur scheinen jedenfalls immer auch solche des Körpers zu sein. Funktion und Gestalt, Positionierung im Raum, Haltung und Geste, das Verhältnis von Natur- und Kulturraum, Innen und Außen. Körper und Architektur, beide fügen sich nicht einfach ein, sondern verdeutlichen Orte, verschränken, verdichten Bezüge zu Orten. Beide, Körper und Architektur, haben mit "bauen" zu tun im etymologischen Sinn des Wortes, der "wohnen" bedeutet. Auf jeden Fall aber, und auch das zeigen die Aufnahmen: vorübergehend, auf Zeit. Ansichtig gewordene Zeit: Bauzeit, Verfallszeit, Zeit in den Körpern, Tageszeit, Wartezeit. Im Augenblick der Belichtung wird Zeit verdichtet: die Zeit des Wartens auf das richtige Licht, die richtige Konstellation, die Gesprächszeit mit den Wartenden. Im Vorgang dieser Verdichtung, also auch durch das Warten, wird Fotografie selbst "bauend". Fotografie und Zeit. Architektur und Zeit.
Selbstbewusste Architekturen, aber anonym, wie von alten Meistern. Beton mit eingelegten Mosaiken, Eisen, zu Ornamenten gebogen. Versuche, etwas Schönes, Besonderes zu machen, eine Form aus dem Gestaltlosen. Dabei beschwören die Haltestellen andere Archetypen aus dem architektonischen Repertoire: Dolmen, Pavillon, Kraftwerk, Bunker, Tankstelle, Laderampe; oder Dinge wie Container, Schirm, Wippe, im Sturz nach vorn erstarrte Welle. Elementare Gesten: gewölbt, ineinander verschachtelt, Durchdringung von horizontalen und vertikalen Elementen wie bei den Suprematisten. Überdecken, umfangen, schützen: die etymologische Bedeutung von "warten" ist "behüten", "bewachen". Wie gesagt, vorübergehend. Öffnungen in den Wänden, hell nach draußen, dunkel nach innen. Rahmen für Steppe-Himmel-Rechtecke, für das Grenzenlose. Durchblicke. Und die Fotografien: Ansichten von Durchblicken.
Die Reste zementierter Fundamente, kleine Inseln für Schiffbrüchige, bescheidene Archen des Alltäglichen, die jederzeit losdriften könnten zum nahegelegenen Berg Ararat. Manchmal fehlt das Dach, in Einzelfällen fehlt fast alles. Ein dachloses Eisengerippe, durch das Wind und Wetter ungehindert hindurchgehen, ist nur noch Zeichen, Suggestion von Schutz. Aber auch da hat sich noch jemand untergestellt, mit einem Schirm über dem Kopf. Innenräume im Freien. Uneingeschränkt bleibt ihnen aber Kraft und Bedeutung von Markierungen im Raum. Keine Wege zu sehen, die hin- oder wegführen. Auch die Wege, die zur Aufnahme führen, bleiben unsichtbar, nur zu ahnen. Im Augenblick der Aufnahme – englisch "exposure" bedeutet fotografische Belichtungszeit ebenso wie Ausgesetztsein – zieht sich das überwältigende Kontinuum "dunkler" Zeit blitzartig zusammen. Das zeigende Sehen der Fotografie entspringt im Unsichtbaren.
Manche warten für sich, andere zusammen. Auch unter der baufälligsten Konstruktion steht oder sitzt noch jemand. Wie wäre es, wenn die Haltestellen nicht so verschieden wären, sondern alle gleich? Wären die Haltungen der Wartenden anders? Machen nicht nur Menschen Architektur, sondern umgekehrt auch die Architektur sich ihre Menschen? Gibt es einen vom Warten formierten Raum? Es gibt ihn, es ist ein Raum von Bezügen, ein Zeit-Raum. Ein für kurze Zeit entlasteter Zustand, vorübergehend herausgenommen aus der Welt der Aktionen. Ein Schwebezustand des Dazwischen. Temporäre Unterbrechung der Verhältnisse in einer der zersplittertsten Gegenden der Welt.
Sie warten nicht irgendwo am Rand der Straße, was wahrscheinlich ebenso gut möglich wäre. Die Wartenden könnten auch sitzen, doch die meisten von ihnen, vor allem die Frauen, stehen. So als wollten sie sich mit dieser körperlichen Geste der Selbstbehauptung der architektonischen Gestalt zuordnen. Selbst wenn es manchmal sichtlich ein erschöpftes oder melancholisches Stehen ist, bezogen auf ein bereits sehr von der Zeit mitgenommenes Bauwerk. Die Haltestellen, kleine Monumente des Durchhaltens am Rand, im Niemandsland. Die Gestalten der Wartenden, in Haltung, Kleidung und Ausdruck: Zeichen, aufgerichtet inmitten der erdrückenden Schwerkraft der Verhältnisse, heroisch, alltäglich komisch, jedenfalls menschlich und würdevoll.
Die Fotografie macht sich ein Bild davon. Wie die Architektur arbeitet sie nicht an der Substanz, sondern prozessual, aus dem Bezug heraus. Ein Spruch über dem Tor der Akbar-Moschee in der indischen Ruinenstadt Fatepur, immerhin großer Architektur eingeschrieben, lautet: "Die Welt ist eine Brücke. Geh hinüber, aber bau nicht deine Wohnung darauf." Genau das sagt die Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes Utopie: eutopos, der gute Ort; und outopos, kein Ort.
Matthias Bärmann
Aus dem Ausstellungskatalog: URSULA SCHULZ-DORNBURG. ARCHITEKTUREN DES WARTENS. FOTOGRAFIEN.
Aedes, Berlin 2004