TRANSIT ORTE

Armenien 1997–2011

 

Julian Heynen: Du bist zufällig auf die Bushaltestellen in Armenien gestoßen? 

Ursula Schulz-Dornburg: Ja, auf sie bin ich bei einer Reise gestoßen, die eigentlich den alten Klöstern von Grenze zu Grenze, von Nord nach Süd, von Ost nach West in diesem ersten christlichen Land gelten sollte. Als ich eine solche Haltestelle gleichsam im Nirgendwo stehen sah, war ich völlig überrascht. Mit der wartenden Frau davor war es eine Situation wie in einem Visconti-Film. Dieses Motiv ist dann später auch das meist abgebildete geworden. Der seltsame Riesenschirm ist eine Reminiszenz an traditionelle Dachformen von Kirchen in Armenien. In der Sowjetzeit war der Bau von Kirchen nicht möglich gewesen. Es steckt hinter dieser Form also vielleicht so etwas wie Ironie im Umgang mit der Beschränkung.

JH: Du warst in der dramatischen Übergangszeit nach der Auflösung der Sowjetunion in Armenien. Obwohl sie weiter benutzt wurden, war die Architektur der Haltestellen dabei, ein Symbol der Vergangenheit zu werden. Abgesehen davon, dass uns manche Formen surrealistisch vorkommen, sind sie natürlich Gesten sozialistischer Utopie: Moderne im Niemandsland. Aber wie ist in den Bildern das Verhältnis der Menschen zu diesen Orten? Hast du sie angesprochen, um etwas über sie zu erfahren? 

USD: Es waren meist Frauen, die dort standen, und die habe ich natürlich gefragt, ob ich sie fotografieren darf. Sie waren eigentlich froh, dass jemand sie beachtet. Danach haben wir Ihnen angeboten, sie mit dem Auto nach Hause zu bringen. Oft sind wir eingeladen worden auf einen Tee. Auf diese Weise habe ich viele Geschichten aus ihrem Leben gehört. Die Zeit nach dem großen Erdbeben und dem Krieg mit Aserbaidschan war von großer Armut geprägt und hat viele von ihnen kreativ gemacht, anderen wiederum gelang es nicht, sich anzupassen. Die Architektur der Bushaltestellen war oft in einem völlig maroden Zustand, aber die Frauen hatten ihre eigene „Architektur“ in der Art wie sie sich gekleidet haben. Auch wenn sie aus vollkommen heruntergekommen Dörfern kamen, sie sahen aus, als ob sie in die Oper gehen würden. Mir schien es so, als ob es die Frauen gewesen waren, die das Leben „getragen“ haben.

JH: Die Menschen an den Bushaltestellen erlangen eine gewisse Unabhängigkeit von ihrer Umgebung. Die Architekturen versinken langsam in der Vergangenheit, die Figuren davor jedoch haben fast etwas Zeitloses. Formal betrachtet sind die Bushaltestellen auf den Bildern isoliert. Es sieht so aus, als ob nichts um sie herum wäre. 

USD: Mir war es wichtig, sie isoliert zu zeigen wie sie vereinzelt am Straßenrand stehen. Dadurch kann man die teilweise fantastisch und absurd anmutenden Formen überhaupt erst richtig erkennen. Ähnlich wie bei den Dioramen im Museum in Sankt Petersburg kann man übrigens auch hier leider nicht erfahren, wer sie entworfen hat. 

 

„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018

Architekturen des Wartens
Museum Ludwig, 2006, Köln

Irgendwo in weiter Landschaft stehen sie in erhabener Strenge als Eisengerüste mit lächerlichen Ornamenten oder in grauem Beton da: Haltestellen in Armenien. Weder Pavillon noch Kiosk, weder Bunker noch Tankstelle scheinen diese merkwürdigen Gebäude den Menschen Schutz zu versprechen, aber diese sind ihnen schutzlos ausgeliefert. Die Anwesenheit der Menschen ist zeitlich bedingt, denn sie warten in grotesker Einsamkeit auf einen Bus, der die Erlösung bringt. Diese Unorte der Architektur hat Ursula Schulz-Dornburg in den Jahren von 1997–2001 fotografiert. Es entstand eine Serie von Fotografien, die groteske Architekturen zeigen, aber auch Pathosformeln des einst real existierenden Sozialismus beschwören.

Presseinformation

Architekturen des Wartens
Dr. J. Thorn-Prikker, in Goethe-Institut, Bonn, 2006

Eine Bildserie der Düsseldorfer Fotografin Ursula Schulz-Dornburg zeigt Zustände grenzenlosen Wartens. Zeitlose Metaphern einer Zeit, die jegliche Zukunft verloren zu haben scheint.

Hat man sie einmal bewusst gesehen, dann wollen sie einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die Sammlung bizarrer Bus-Haltestellen, die die Düsseldorfer Fotografin Ursula Schulz-Dornburg von Reisen nach Armenien (1997 – 2001) mitgebracht hat, verfügt über eine rätselhafte, ihre Entstehungszeit und ihren Entstehungsort weit überschreitende Kraft.

Es sind Aufnahmen von einer ganz ungewöhnlichen traurigen Schönheit und einer schwer zu benennenden Komik. Über eine dieser Haltestellen allein, würde man vielleicht wie über einen Bildwitz lachen, alle zusammen aber haben sie etwas von Metaphern existentieller Verlorenheit. Die Fotografin hat es verstanden, diese Haltestellen mit gelassener Lakonik in strengen Schwarzweißfotografien im Bild festzuhalten. Sie vertraut der Aussagekraft dieser Architekturen des Wartens und überlässt ihre Bilder ganz und gar den Deutungen der aufmerksamen Beobachter.

Alle Bauten, die sie ins Bild rückt, sind sie vollkommen überproportioniert. Funktionalität spielt nie eine Rolle. Material wird immer in Hülle und Fülle verschwendet. Als hätte es nie einen Mangel an Baumaterialien gegeben und als hätten dem Einfallsreichtum der entwerfenden Architekten alle Türen und Toren offen gestanden, hat man hier nicht mit einer standardisierten Sparversion gearbeitet, sondern keine Kosten und Mühen gescheut, um die Leere mit Denkmälern für die unbekannten Wartenden zu füllen.

Ursula Schulz-Dornburg hat einen lakonischen Bildstil für dieses Sujet gefunden, der das ganze Potential, das im Thema des Wartens liegt, bis zur Neige ausschöpft. Alle Stimmungen zwischen Ruhe, Hoffnung auf einen Aufbruch ins Unbekannte und grenzenloser Leere sind vertreten. Da sind Schirme aus Stahlbeton mit primitiven Hockern, Pilzartige Konstruktionen in allen Variationen von Kreissegmenten. Andere sind zarte Eisenkonstruktionen, die sich wie Zeichnungen aus Draht in den grauen Himmel einschreiben. Dekorationen im Nichts.

Es gibt pathetische Anklänge an Beton-Sterne, Konstruktionen mit symmetrischen ausladenden Seiten-Flügeln, als könnte der Aufbruch von hier gar nicht schnell genug und nicht weit genug fort erfolgen. Es gibt skelettartige Bauten mit Andeutungen von fantastischen Nebenräumen und seltsamen Hinterzimmern.

Einige Haltestellen scheinen wie Wellen aus gebogenem Stein über den Wartenden zusammenzuschlagen. Andere sind nur noch leere Gerüste mit bloßen Andeutungen von Wandflächen und Dächern von denen man nicht weiß, ob sie nie fertig gestellt wurden, oder bereits verfallen sind. Leere Schutzgesten, die vor nichts schützen.

Baulich finden sich so ziemlich alle Verweise zwischen Tempel und Burg. Alle Übergrößen und Schutzgesten werden erprobt. Der pompöser Formenreichtum steht in Widerspruch zum schäbigen Bauzustand, in dem sie sich befinden. Fenster sind längst zerbrochen oder wurden gar nicht erst eingebaut, Wände sind von Graffitis und Botschaften an Unbekannte übersät, die hier Stunden ihrer Lebenszeit mit Warten verloren haben. Ortsnamen oder Andeutungen von Fahrplänen mit regelmäßigen An- oder Abfahrzeiten fehlen generell.

Paläste der Leere in der ortlos scheinenden Weite eines Niemandslandes. Wie es der Fotografin gelungen ist, die Haltestellen so aufzunehmen, dass sie immer weit abseits aller menschlichen Behausungen zu liegen scheinen, ist ihr Geheimnis.

Die Menschen auf diesen Bildern sehen aus, als brächen sie von einem verlassenen Planeten in einen Kontinent unsichtbarer Städte auf. Ihre Gesten des Wartens haben eine ruhige Bescheidenheit, die jenseits des leeren Pathos der Bauformen liegt.

Diese beeindruckende Bilderserie von Ursula Schulz-Dornburg hat eine Bildkraft, die zur Metapher tendiert. Alle Aufnahmen sind dokumentarische Fundstücke aus der Wirklichkeit, aber sie scheinen wie Parabeln des Wartens auf neue Zeiten, die nie angebrochen sind. Vielleicht wird man sie einmal als bilanzierende Schlussbilder unter einer Epoche des Staatssozialismus lesen?

Jan Thorn-Prikker

Architekturen des Wartens 
Matthias Bärmann, 2004

BUSHALTESTELLEN IN ARMENIEN

 I’m waiting, not waiting. I’m there
(Robert Lax)

Sie gehören zu den Allerweltssachen, fallen vielleicht keinem der täglich hier Wartenden besonders auf, und wohl kaum einem Reisenden. Bushaltestellen in Armenien, dem ältesten christlichen Land der Welt, von dem heute kaum jemand mehr so recht weiß, wohin es gehört. Architekturen aus den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der heroischen Zeit sozialistischen Bauens. Sie stehen allein, keine sieht aus wie die andere. An Strecken, die Orte mit uns völlig unbekannten und schwer auszusprechenden Namen verbinden. Aufgereiht an der Straße, entlang des Horizonts. Der Horizont eröffnet oben und unten. Diese Straße führt von Goris nach Khndsorek.

Sie stehen daneben, am Rand, oder dazwischen. So, wie die Fotografien sie zeigen, stehen sie ganz für sich, und zugleich in einem klaren und strengen Bezug. Tageszeit, Wetter, Licht, ein diffuses Streulicht: in Schwarzweiß werden die kleinen Architekturen des Wartens auf die Topographie von Siedlungsrand, Bergzug in der Ferne, Straße im Vordergrund bezogen und dadurch verdichtet, deutlich zu sich selbst gebracht. In minimalistischer Strenge spannt die fotografische Intervention den Bogen von den Warteplätzen über die Weite von Niemandsland und Steppe hinweg bis zum Horizont. So, dass sich von der Horizontlinie her – in der Bildmitte verlaufend, leicht darunter, oder leicht darüber – der Bildraum entfaltet. Dergestalt manifestiert sich im Bild eine durchdringende Korrespondenz der Dinge, eine Architektur anderer Ordnung: ein Ort.

Der Neurologe Wolf Singer hat die komplexen Interaktionsgeflechte von Hochhäusern mit den hoch organisierten Strukturen und Prozessen des Gehirns verglichen. Kann man Körper-Analogie entsprechend zu den Haltestellen ziehen? Die Parameter der Architektur scheinen jedenfalls immer auch solche des Körpers zu sein. Funktion und Gestalt, Positionierung im Raum, Haltung und Geste, das Verhältnis von Natur- und Kulturraum, Innen und Außen. Körper und Architektur, beide fügen sich nicht einfach ein, sondern verdeutlichen Orte, verschränken, verdichten Bezüge zu Orten. Beide, Körper und Architektur, haben mit "bauen" zu tun im etymologischen Sinn des Wortes, der "wohnen" bedeutet. Auf jeden Fall aber, und auch das zeigen die Aufnahmen: vorübergehend, auf Zeit. Ansichtig gewordene Zeit: Bauzeit, Verfallszeit, Zeit in den Körpern, Tageszeit, Wartezeit. Im Augenblick der Belichtung wird Zeit verdichtet: die Zeit des Wartens auf das richtige Licht, die richtige Konstellation, die Gesprächszeit mit den Wartenden. Im Vorgang dieser Verdichtung, also auch durch das Warten, wird Fotografie selbst "bauend". Fotografie und Zeit. Architektur und Zeit.

Selbstbewusste Architekturen, aber anonym, wie von alten Meistern. Beton mit eingelegten Mosaiken, Eisen, zu Ornamenten gebogen. Versuche, etwas Schönes, Besonderes zu machen, eine Form aus dem Gestaltlosen. Dabei beschwören die Haltestellen andere Archetypen aus dem architektonischen Repertoire: Dolmen, Pavillon, Kraftwerk, Bunker, Tankstelle, Laderampe; oder Dinge wie Container, Schirm, Wippe, im Sturz nach vorn erstarrte Welle. Elementare Gesten: gewölbt, ineinander verschachtelt, Durchdringung von horizontalen und vertikalen Elementen wie bei den Suprematisten. Überdecken, umfangen, schützen: die etymologische Bedeutung von "warten" ist "behüten", "bewachen". Wie gesagt, vorübergehend. Öffnungen in den Wänden, hell nach draußen, dunkel nach innen. Rahmen für Steppe-Himmel-Rechtecke, für das Grenzenlose. Durchblicke. Und die Fotografien: Ansichten von Durchblicken.

Die Reste zementierter Fundamente, kleine Inseln für Schiffbrüchige, bescheidene Archen des Alltäglichen, die jederzeit losdriften könnten zum nahegelegenen Berg Ararat. Manchmal fehlt das Dach, in Einzelfällen fehlt fast alles. Ein dachloses Eisengerippe, durch das Wind und Wetter ungehindert hindurchgehen, ist nur noch Zeichen, Suggestion von Schutz. Aber auch da hat sich noch jemand untergestellt, mit einem Schirm über dem Kopf. Innenräume im Freien. Uneingeschränkt bleibt ihnen aber Kraft und Bedeutung von Markierungen im Raum. Keine Wege zu sehen, die hin- oder wegführen. Auch die Wege, die zur Aufnahme führen, bleiben unsichtbar, nur zu ahnen. Im Augenblick der Aufnahme – englisch "exposure" bedeutet fotografische Belichtungszeit ebenso wie Ausgesetztsein – zieht sich das überwältigende Kontinuum "dunkler" Zeit blitzartig zusammen. Das zeigende Sehen der Fotografie entspringt im Unsichtbaren.

Manche warten für sich, andere zusammen. Auch unter der baufälligsten Konstruktion steht oder sitzt noch jemand. Wie wäre es, wenn die Haltestellen nicht so verschieden wären, sondern alle gleich? Wären die Haltungen der Wartenden anders? Machen nicht nur Menschen Architektur, sondern umgekehrt auch die Architektur sich ihre Menschen? Gibt es einen vom Warten formierten Raum? Es gibt ihn, es ist ein Raum von Bezügen, ein Zeit-Raum. Ein für kurze Zeit entlasteter Zustand, vorübergehend herausgenommen aus der Welt der Aktionen. Ein Schwebezustand des Dazwischen. Temporäre Unterbrechung der Verhältnisse in einer der zersplittertsten Gegenden der Welt.

Sie warten nicht irgendwo am Rand der Straße, was wahrscheinlich ebenso gut möglich wäre. Die Wartenden könnten auch sitzen, doch die meisten von ihnen, vor allem die Frauen, stehen. So als wollten sie sich mit dieser körperlichen Geste der Selbstbehauptung der architektonischen Gestalt zuordnen. Selbst wenn es manchmal sichtlich ein erschöpftes oder melancholisches Stehen ist, bezogen auf ein bereits sehr von der Zeit mitgenommenes Bauwerk. Die Haltestellen, kleine Monumente des Durchhaltens am Rand, im Niemandsland. Die Gestalten der Wartenden, in Haltung, Kleidung und Ausdruck: Zeichen, aufgerichtet inmitten der erdrückenden Schwerkraft der Verhältnisse, heroisch, alltäglich komisch, jedenfalls menschlich und würdevoll.

Die Fotografie macht sich ein Bild davon. Wie die Architektur arbeitet sie nicht an der Substanz, sondern prozessual, aus dem Bezug heraus. Ein Spruch über dem Tor der Akbar-Moschee in der indischen Ruinenstadt Fatepur, immerhin großer Architektur eingeschrieben, lautet: "Die Welt ist eine Brücke. Geh hinüber, aber bau nicht deine Wohnung darauf." Genau das sagt die Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes Utopie: eutopos, der gute Ort; und outopos, kein Ort.

Matthias Bärmann 

Aus dem Ausstellungskatalog: URSULA SCHULZ-DORNBURG. ARCHITEKTUREN DES WARTENS. FOTOGRAFIEN.

Aedes, Berlin 2004

Immobilmachung: Fotografien von Ursula Schulz-Dornburg
Gerhard Matzig, 2004

Warteraume werden uns in jenem Maße bedeutsam, in dem uns die Mobilität zu transitorischen Lebewesen umerzieht. Zunehmend sind wir in Bewegung: mit Bus, Bahn oder Flugzeug. Wir sind Pendler, Geschäftsreisende oder Fernliebende. Wir bereisen Städte, Länder oder Kontinente. Eine ungeheure Dynamik ist in die globalistische Gesellschaft gefahren. Doch steht dieser Dynamik auch eine ganz besondere Form der Statik gegenüber, und gerade das Mobile bringt – paradoxerweise – eine ganz besondere Form der Immobilie hervor.

Damit sind jene denkwürdigen Zwischenzeit-Räume gemeint, die wir uns erst errichten müssen, um die wahren Raume bequem durcheilen zu können. Es sind die Orte des Ein-, Aus- und Umsteigens, die des Abreisens, Ankommens oder Wartens: also Bushauschen, Bahnsteige oder Flughafenterminals. Architekturen sind das, die das Verharren in der Bewegung thematisieren. Das neue Warten soll darin als Erleben, ja als Leben selbst inszeniert werden. So entstehen Terminals, die von Supermarkten kaum zu unterscheiden sind. Und Bahnhofe, die sich als Kinos oder Konferenzzentren entpuppen. Das neue Warten dient dem Dasein und der Erfüllung. Das alte Warten diente dem Anderswoseinwollen und der Sehnsucht.

„I’m waiting, not waiting. I’m there.“

Diese Worte stammen von dem amerikanischen Dichter Robert Lax, sie sind der denkwürdigen Berliner Foto-Ausstellung ,,Architekturen des Wartens" – noch bis zum 12.12. in der Galerie Aedes zu sehen – sowie dem gleichnamigen Büchlein vorangestellt (Ursula Schulz-Dornburg: Architekturen des Wartens. Fotografien. Aedes, Berlin 2004. 40 Seiten, 10 Euro). Zu sehen sind darin die großartigen, gespenstisch innerlichen und zugleich sich wie auf einer Bühne expressiv darbietenden Bushaltestellen oder Bahnhöfe, die Ursula Schulz-Dornburg in Armenien und Saudi-Arabien fotografiert hat. Die Bushaltestellen, „Monumente des Durchhaltens am Rand, im Niemandsland“ (Matthias Bärmann), stammen aus den siebziger- oder achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sie säumen die Strecken von Erevan bis Armavir (unser Bild) oder von Hoktemberian bis Baghramian. Und die Bahnstationen reihen sich entlang der ehemals 1300 Kilometer langen „Hejaz Bahn“, die vor einhundert Jahren Damaskus mit Medina verbunden hat. Beduinenstamme, unterstutzt von T. E Lawrence, dem „Lawrence von Arabien“, zerstörten die Bahnlinie 1917. Übrig geblieben sind nur die einsamen, scheinbar nutzlosen Bahnhöfe.

Wie selbstgenügsame Inseln im Fluss der Zeit wirken die Warteraume in Armenien und Saudi-Arabien: stoisch, gelassen, unheimlich – wartend. Ihren seltenen Bewohnern auf Zeit geben sie kaum Schutz, wohl aber etwas Kraftvolles, etwas Ungerührtes, etwas durch und durch Unbewegtes. Das ist das eigentlich Schone an diesen Bildern und Orten: Das Warten ist darin etwas, das der Ewigkeit mehr zu gehören scheint als der Beweglichkeit.

Gerhard Matzig 
Suddeutsche Zeitung Nr.278. Dienstag, 30. November 2004

Architekturen des Wartens 
Siegfried Löffler, 2004

Mit dem Eintreffen des jüngsten Buches oder neuesten Kataloges eines Fotografen, gar eines sogenannten Architekturfotografen sind in der Regel keine besonderen Erwartungen verbunden, da die meisten dieser Druckwerke trotz einer nicht selten opulenten Aufmachung kaum Appetit erzeugen, weder den Wissensdurst zu stillen, nach einen Augenschmaus zu bieten vermögen. Oft unentschieden zwischen Stilisierung und Stillosigkeit schwankend, bedienen sie zwar stets allerlei Formen des Zeitgeistes, entbehren aber zugleich jener Ingredienzien, die zum Schmecken und Entdecken einladen, einem letztlich also Kunstgenuß oder Erkenntnisgewinn verheißen.
Und dennoch gab und gibt es immer wieder Überraschungen, bedarf es manchmal nur eines schmalen Bandes, um seine Meinung ein klein wenig korrigieren zu müssen. "Architekturen des Wartens" ist nun ein solcher Fall, was sich bereits an der Wahl des Themas zeigt Haltestellen in Armenien und Bahnhöfe in Saudi-Arabien. Abseits üblicher Stadthausvisualisierungen und der heute so beliebten Nachtaufnahmen von mehr oder minder glänzenden Fassaden, die eher an Strickmuster oder Sturmwellen denken lassen, als Gestalt oder Konstruktion des Gebäudes zu erhellen, veranschaulichen die Bilder von Ursula Schulz-Dornburg folglich das Wesen wie die Vergänglichkeit von Bauten, deren Struktur zunächst ebenso unspektakulär erscheint wie ihr Kontext. Bei etwas genauerer Betrachtung entfalten sie jedoch einen ganz speziellen Reiz, offenbaren sich ihre Qualität wie Originalität und verraten derart nicht wenig von den technischen und politischen Veränderungen, die ihr Aussehen wie das leben der sie aufsuchenden Menschen geprägt haben. Die Stationen der Hejaz-Railway beispielsweise, auf der seit gut 90 Jahren kein Zug mehr verkehrt, wurden 1907 von dem deutschen Ingenieur Heinrich Meissner errichtet und sind inzwischen fast zur Gänze "entkernt", während die ohnehin ziemlich "flüchtigen" Busstops schon seit jeher zwischen Straße und Horizont, Siedlungsrand und Gebirge, Steppe und völligem Nichts liegen und die Spuren ihrer Benutzung daher geradezu exemplarisch vorführen. Und so reflektieren beide "Motive" schweigsame, auf die entscheidenden Elemente reduzierte Situationen, die sich aus einem inneren Raum der Leere und Ruhe entwickeln. Die Bereitschaft zur langsamen, sorgfältigen und nicht zuletzt vorurteilsfreien Annäherung bleibt hier indessen unabdingbar, will man das Außergewöhnliche dieser Orte erspüren. — Und das ist unbedingt empfehlenswert.

Siegfried Löffler
[Umrisse] Zeitschrift für Baukultur 5/6, 2004

Frau, vor dem Leben stehend
Arnold Stadler