THE LAND IN-BETWEEN

Shoair Mavlian

 

 

 

Im April 1980 reiste Ursula Schulz-Dornburg nach Bagdad, um in den weiten Sumpfgebieten Mesopotamiens zwischen Euphrat und Tigris zu fotografieren. Sie mietete einen Wagen, erhielt allerdings die strikte Auflage, sich nicht weiter als fünf Kilometer von der Stadtgrenze zu entfernen. Nachdem sie dieses Problem mit Unterstützung einer Gruppe von finnischen Ingenieuren, die in dieser Region arbeiteten, durch die Abschaltung des Kilometerzählers lösen konnte, machte sie sich auf eine zweiwöchige Reise gen Süden. Mit dieser einfachen Aktion, den Kilometerzähler außer Betrieb zu setzen, brachte sie symbolisch die Zeit zum Stillstand und umging die zeitlichen und räumlichen Reisebeschränkungen. Damit war sie frei, außerhalb der auferlegten Grenzen zu arbeiten und ihr Projekt zu vollenden.[1]

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Die Zeit spielt in Schulz-Dornburgs fotografischem Œuvre eine zentrale Rolle. Wie wir wissen, ist die Fotografie ein Einfrieren der Zeit und wird aufgrund ihrer Fähigkeit, ein indexikalisches Zeichen der Welt zu schaffen, hoch geschätzt. [2] Dennoch ist die Zeit in der Fotografie vielfach präsent; so lässt sich laut Daido Moriyama eine Fotografie auch unter dem Begriff „Fossilien des Lichts“ [3] interpretieren, als ein Objekt also, das aus vielen Schichten zusammengesetzt ist, die sich sowohl vor als auch nach einem „eingefrorenen Moment“ entwickelt haben. Wenn wir den Vergleich mit Fossilien und ihren über lange Zeit aufgebauten Schichten übernehmen, beginnen wir zu verstehen, wie die Fotografie im Schaffen von Schulz-Dornburg fungiert: nicht als Medium, um die Zeit einzufrieren, sondern vielmehr als Mittel, sie zu dehnen. Schulz-Dornburg bietet dem Betrachter ein Bild als Tor zu mehreren Zeitebenen, einschließlich des Kontexts, in dem das Bild gemacht wurde, des vorher Geschehenen und womöglich unmittelbar Bevorstehenden. In ihrem Schaffen ist die Zeit weder eingefroren noch linear, sondern zyklisch; die Künstlerin begnügt sich nicht damit, einen Moment oder das „Danach“ zu registrieren, sondern befasst sich mit den Zeitschichten zwischen einem großen historischen Moment und dem nächsten. Diese Perioden des Dazwischen, der Ruhe oder des Stillstands, sind häufig lange, scheinbar unbedeutende Phasen, die Tausende, Hunderte von Jahren oder aber Jahrzehnte umfassen können und unterstreichen, dass die zyklischen Schichten zwischen großen Ereignissen einen bedeutenden Teil des Narrativs bilden und vielleicht ebenso wichtig sind wie schlagartige Handlungen.

Um diese zeitlichen Zyklen nachzuvollziehen, richtet Schulz-Dornburg den Blick auf Teile der Welt, in denen die Zeit selbst vergessen scheint. Die in diesem Essay untersuchten Arbeiten sind den Projekten der Künstlerin entnommen, die in einer relativ begrenzten geografischen Zone entlang einer gedachten Linie östlich des 45. Längengrades durchgeführt wurden. Dieses Gebiet schließt neben uralten Kulturen auch moderne Standorte von strategischer Bedeutung ein, die fast alle aufgrund eines Schwindens oder einer Verlagerung des Brennpunkts seit Langem dem Verfall preisgegeben sind. Dieses sowohl als Eingangstor wie als Knotenpunkt oder „Land zwischen den Flüssen“ bezeichnete Gebiet wurde häufig nicht durch eigene Inhalte definiert, sondern durch das zu seinen beiden Seiten Existierende: Europa und Asien, Ost und West, alt und modern und in neuerer Zeit Demokratie und Diktatur. [4] Schulz-Dornburg reiste über 30 Jahre, von 1980 bis 2011, in diese Region und besuchte das moderne Armenien, Georgien, Iran, Irak, Saudi-Arabien, Syrien und Jemen. Dabei dokumentierte sie Ruinen des aufgegebenen osmanischen Eisenbahnprojekts in Saudi-Arabien, verfallene Bushaltestellen aus der sowjetischen Ära in Armenien, Behausungen im Marschland Mesopotamiens und die Überreste des römischen Reiches in Syrien. Ein reichhaltiger Fundus von Bildern aus einem kulturhistorischen Schmelztiegel der Welt, kann Schulz-Dornburgs Schaffen als Vehikel zur Erkundung des Raums, der spezifischen geografischen Landschaften wie auch der Zeit und des Kontexts dienen, in dem sie entstanden.

Stil und Ansatz ihres Dialogs mit Zeit und Raum sind fließend, aber verhalten und mit einer minimalistischen und konzeptuellen Denkweise verbunden, die sich in den 1960er-Jahren in den USA herausbildete und während der 1970er-Jahre an Bedeutung gewann. Als sie 1967 in New York lebte, besuchte sie häufig die Pace Gallery und die Castelli Gallery, damals die Vorhut der minimalistischen und konzeptuellen Kunst, und nahm die zeitgenössischen Einflüsse in sich auf. Dort sah sie auch Ausstellungen von Walker Evans und Robert Frank, ein Beweis ihres Interesses an sozial-dokumentarischer Fotografie. Bei ihrer Rückkehr nach Europa wurde Schulz-Dornburg mit dem Schaffen von Walter De Maria, Per Kirkeby, Ed Ruscha und Lawrence Weiner vertraut. Dokumentationen zweier Kunstwerke an der Wand ihres Düsseldorfer Ateliers belegen diese frühen Bezüge. Das erste Beispiel ist ein Bild von Walter De Marias Calendar (1961–1975), einer interaktiven minimalistischen Skulptur aus einem feststehenden und einem beweglichen Stab und einem Faden mit 365 Knoten – einer für jeden Tag des Jahres. Das Werk, erklärt Schulz-Dornburg, „bewegt sich im Einklang mit dem Fortschreiten des Jahres und ist eine genial einfache Darstellung der unablässig wechselnden Beziehung zwischen Zeit und Raum“.[5] Das zweite Beispiel ist die Fotografie eines Werks von Lawrence Weiner, dessen erste Zeile lautet: „Having bridged a (the) gap“, eine Anspielung auf die emblematische Kluft oder den Zwischenraum. Diese beiden Beispiele stehen für zwei wichtige konzeptuelle Themen, die sich durch das gesamte Schaffen Schulz-Dornburgs ziehen: erstens ihr abstraktes Verständnis von der auf Zeit und Raum bezogenen Bewegung, das es erlaubt, Bewegung und Zeit in einzelnen Standfotos wiederzugeben.

Abb. 3 Mesopotamien, das Gebiet zwischen Euphrat und Tigris. (Illustration aus: Ursula Schulz-Dornburg und F. Rudolf Knubel – Der Tigris des alten Mesopotamien, Irak 1980, Ausst.-Kat. Kestner Gesellschaft Hannover,1981)
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg und F. Rudolf Knubel – Der Tigris des alten Mesopotamien, Irak 1980, Ausst.-Kat. Kestner Gesellschaft Hannover, hrsg. von Carl Haenlein, Hannover 1981, o. S. S. 145

Das zweite Thema ist die Bedeutung des Abwesenden und die Überlegung, wie Abwesenheit oder Lücken genutzt werden können, um Fragen oder Möglichkeiten der Erkundung zu eröffnen. Schulz-Dornburg unterstreicht diese metaphorischen Lücken bei der Planung der Reihenfolge und Installation ihrer Werke, indem sie Abwesendes durch Leerraum hervorhebt. Dieses Festlegen einer Hängung oder eines Layouts dient zur Verbindung von Bildern, die konzeptuell aufeinander bezogen sind, aber über einen weiten zeitlichen oder räumlichen Horizont hinweg aufgenommen wurden. Sie erklärt: „Ich habe immer in Sequenzen gearbeitet, da ich bestimmte Ideen im Kopf hatte, die ich in Beziehung setzen wollte. Und ich habe immer mit einer breiten Zeitspanne gearbeitet. Die Erfahrung von Zeit wurde zu einem thematischen Element.“[6] Weiße Flächen oder Lücken trennen die Sequenz und signalisieren womöglich eine Unterbrechung ihrer Reise, eine Verschiebung der linearen Ausrichtung, oder dienen einfach als Mittel, den Sehvorgang zu verlangsamen. Schulz-Dornburg erforscht auch die Zeit in Beziehung zur Entfernung, indem sie dem Betrachter die Nähe dieser häufig abstrakten Standorte durch eine begleitende Landkarte (Abb. 3) vor Augen führt. Obwohl die Landkarte einen geografischen Kontext bietet, finden wir hier Schulz-Dornburgs fließende zeit- und raumbezogene Herangehensweise in Gestalt einer Abfolge von Bildern, die Seite an Seite Ansichten wiedergeben, die vielleicht Hunderte Kilometer voneinander entfernt sind. Als Reise präsentiert, ist jedes Bild eine Kristallisation und Erweiterung von Zeit und Raum, die eine komplizierte Landschaft gleichzeitig enthüllt und verbirgt, wobei der Betrachter den Raum oder die Lücke zwischen jedem Bild frei interpretieren kann. Obwohl seiner Form nach dokumentarisch, ist Schulz-Dornburgs Werk ein Ergebnis ihres Seins und ihrer Erfahrung mit und im Raum, ihre Bilder schildern nicht „eine“ Reise, sondern „ihre“ Reise durch die Landschaft, ihren besonderen Weg. In diesem Zusammenhang erklärt sie: „Durch die physische Erfahrung von Distanz, Raum und Darstellung, wie ich sie durch das Werk von Richard Long erlebte, wurde mir die Bedeutung des Reisens kraftvoll bestätigt. Reisen ist wichtig für mich: Je weiter man geht, desto klarer werden die Standpunkte.“[7] So kann ihr Werk auch in Beziehung zur Land Art und der körperlichen Erkundung und Erfahrung der Landschaft gesehen werden. Dabei ist es wichtig, Schulz-Dornburgs Außenseiterposition im Verhältnis zu diesen Umfeldern zu betonen, was ihr vielleicht erlaubt, eine neue oder andersartige Perspektive anzubieten. Die Bedeutung dieser gebündelten Erfahrung, sowohl physisch in der Landschaft anwesend zu sein als auch die Landschaft mit neuen Augen zu erleben, beschreibt der Künstler Per Kirkeby treffend: „Wenn ich weggehe, trenne ich mich von allen Arten des Provinzialismus. Was international oder nicht provinziell ist, ist in der Luft zwischen bestimmten Orten zu finden.“[8]

Der Irak

Nachdem sie sich ein Transportmittel verschafft hatte, fuhr Schulz-Dornburg im April 1980 entlang des Tigris nach Süden und dokumentierte dabei die Reise von Bagdad zu den Sümpfen im Inneren. Schon seit dem 5. Jahrtausend v. Chr. besiedelt, zuletzt von den Marscharabern, findet dieses alte Kulturland in der alten und modernen Geschichte und im Alten Testament Erwähnung. Schulz-Dornburgs Interesse an dem Thema wurde von Wilfred Thesigers 1964 erschienenem Buch The Marsh Arabs[9] geweckt.

Die Landschaft in den Bildern Schulz-Dornburgs ist minimalistisch und von Wasser, Schilfgürteln und dem Himmel geprägt. Dennoch sind die Bilder voller Details, denn die Künstlerin fängt die sich kräuselnden Wellen auf dem Wasser ebenso ein wie die Reflexe der dichten Riesenbinsen und kaum sichtbare, einsame Gestalten in der Entfernung. In dieser weiten Landschaft sind Distanz und Maßstab schwer zu bestimmen, und bei vielen der Bilder lässt sich schwer ausmachen, ob Schulz-Dornburg und ihre Kamera sich auf dem Land oder im Wasser befinden, ob in Bewegung oder reglos. Doch trotz dieser unkonventionellen Bedingungen ist Schulz-Dornburg auf der Suche nach der Ordnung des Alltäglichen, ein Ansatz, der sie mit den New Topographics verbindet.[10] Die organischen Formen der schwimmenden Schilfhütten werden einzeln ins Bild gesetzt, was vielen Aufnahmen eine uniforme Frontalperspektive aufprägt. Der Himmel ist, vielleicht zufallsbedingt, wolkenlos und verleiht der gesamten Serie eine gewisse Beständigkeit, die an ihre Zeitgenossen Bernd und Hilla Becher erinnert.[11] In Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs (1980), einer Serie von 45 Aufnahmen, verfeinert Schulz-Dornburg ihre fotografische Sprache durch einen topografischen Rahmen und kehrt nur gelegentlich zu einer eher dokumentarischen Form zurück, wenn sie hin und wieder die Kamera auf ihre Gastgeber richtet, die ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen (Abb. S. 99). In diesem umfassenden Projekt, das ihr erstes großes Werk bilden sollte, zeichnet sich ihre ständige Einbeziehung eines weiten Horizonts ab, der über die Bildkanten hinausreicht. Zum Motiv des unendlichen Horizonts, der in der Folge ihr gesamtes Œuvre durchzieht, erklärt Schulz-Dornburg: „Für mich ist der Horizont die Nulllinie der Menschheit.“[12]  Diese Grenzlinie zwischen Himmel und Erde dient dazu, die Illusion fortwährender Bewegung durch Zeit und Raum hervorzurufen und so die Bedeutung einer jeden Aufnahme als Teil einer größeren Folge zu unterstreichen, in der sich Bild an Bild fügt.

Die Serie Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs hält eine Landschaft sowie eine Lebensweise am Rande des Verschwindens fest und ist der Künstlerin zufolge das Ergebnis ihres instinktiven Drangs, das, was sie für bedroht hielt, zu dokumentieren. Hier wird deutlich, dass in Schulz-Dornburgs Œuvre die Zeit nicht nur in Verbindung mit der Temporalität, sondern auch mit der Chronologie der Geschichte in Erscheinung tritt. Ihr Timing oder die Fähigkeit, den am Horizont aufziehenden Wandel vorherzusehen, ist für den Kontext ihres Schaffens überaus wichtig. Die Fotografien, die sie fünf Monate vor dem Beginn des Krieges zwischen dem Iran und Irak während Saddam Husseins Aufstieg zur Macht gemacht hat, fangen eine Landschaft unmittelbar vor den Veränderungen ein, die durch den Kriegsausbruch und später durch die Trockenlegung des Sumpflandes einsetzten.[13] Obwohl sie den bevorstehenden Konflikt nicht hätte vorhersehen können, empfand sie während ihres Projekts eine gewisse Spannung und Dringlichkeit:

Ich wusste, ich hatte nur drei Wochen in dem Land, und ich wusste, ich würde nicht zurückkehren können. Es gab einen begrenzten Zeitraum, um Bilder aufzunehmen, es herrschte aber auch ein umfassendes Bewusstsein, dass sich ein bedeutender Wandel und eine reale Möglichkeit abzeichneten, dass diese Landschaft, diese Umwelt und die alte Lebensweise von der Auslöschung bedroht waren.[14]

Bei der Rückkehr nach Deutschland wurde das Projekt ausgestellt, begleitet von einer kleinen Publikation, mit der auf die Situation aufmerksam gemacht werden sollte. Leider erwies sich jeder Versuch, Unterstützung für den Erhalt der weiten Feuchtgebiete zu finden, letztlich als vergeblich.

Schulz-Dornburg setzte ihre Reise durch den Irak jenseits der Sümpfe fort und schuf ein weiteres Werk unter dem Titel Verschwundene Landschaften, Irak, Mesopotamien (1980). Diese Serie hält ihre Reise durch die weiten Ebenen Mesopotamiens und die Überreste seiner Städte fest, die bis in das Jahr 4500 v. Chr. zurückreichen: ein Gebiet, das die Wiege der Zivilisation genannt wird.[15] In der kargen, mondähnlichen Landschaft verstreut erheben sich die monumentalen Bauwerke von Uruk und Ur, die in den Bildern zunächst undeutlich am Horizont erscheinen, aber klar sichtbar werden, wenn Schulz-Dornburg sich ihnen nähert. Innerhalb der Serie taucht eine kaum lesbare Struktur auf: einer Zikkurat ähnlich, ist das fragliche Objekt eine Lehmziegelfabrik, ein vergleichsweise modernes Bauwerk. Die Einbeziehung der Ziegelfabrik in die Reihe der alten Tempel erinnert den Betrachter daran, dass Schulz-Dornburg sich nicht nur mit der Geschichte befasst, sondern sich gleichermaßen für Funktion, Gestaltung und Form interessiert. Beim Blick auf die Bauwerke, die alle im Lauf der Zeit erodiert sind und sich in unterschiedlichen Phasen des Verfalls befinden, schwankt der Betrachter zeitweise, ob es sich um längst verlassene alte Tempel handelt oder aber um traditionelle Arbeitsstätten, die heute noch in Funktion sind und das Überleben von Gemeinschaften bekräftigen, während alte und neue Welten Seite an Seite existieren. Hier gelingt es Schulz-Dornburg, die Vorstellung von aufeinanderfolgenden Zyklen einzufangen, die von der Zeit, der Macht und dem Untergang von Kulturen geprägt sind, während wir die visuellen Belege der Existenz der großen Städte Mesopotamiens zu begreifen beginnen, dieser in der Alten Welt so mächtigen Region. Heute liegt das Gebiet weitgehend verlassen und schweigend vor uns, und doch wird der Betrachter gleichzeitig an seine mächtige Vergangenheit und heutige relative Bedeutungslosigkeit erinnert. Die Macht bleibt selten dauerhaft bestehen, wenn der Brennpunkt sich auf Gebiete von aktueller politischer Bedeutung verlagert.

Jemen

Abb. 4 Ursula Schulz-Dornburg: "Jemen", 1986, 30 × 20,6 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg
Abb. 5 Ursula Schulz-Dornburg: "Jemen", 1986, 35 × 23 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

1986 reiste Schulz-Dornburg nach Marib im Jemen, um die Ruinen von Mahram Bilquis und die Relikte des Bar’an-Tempels zu fotografieren, der umgangssprachlich als Arsh Bilqis oder auch Mondtempel bezeichnet wird. Doch in diesem Fall war ihr Timing nicht günstig. Laut Schulz-Dornburg verhinderte die Nähe des Tempels zu den neu erschlossenen Gas- und Ölfeldern den Zugang zu den Ruinenfeldern und schränkte ihre Arbeitsmöglichkeiten ein. Sie nahm einige Ansichten des Tempels und der Ruinen auf, doch die meisten ihrer Arbeiten aus dem Jemen konzentrieren sich auf Elemente der Architektur und des Alltagslebens. Schulz-Dornburgs Interesse an dem gebauten Umfeld war teilweise von Bernard Rudofskys Buch Architektur ohne Architekten. Eine Einführung in die anonyme Architektur (engl. Originalausgabe 1964) beeinflusst. Der Band begleitete 1964 eine gleichnamige Ausstellung im Museum of Modern Art in New York und betrachtet regionale oder traditionelle nicht-westliche Architektur unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität.

In Marib und der Umgebung fotografierte Schulz-Dornburg Wohnbehausungen, spielende Kinder und einen Friedhof, dessen Gräber durch senkrecht aufgestellte Felsbrocken markiert sind (Abb. 4 und 5). Die Bilder aus dem Alltagsleben zeigen, wie die Landschaft und das lokal verfügbare Material Architektur und Design beeinflussen, deren Ansatz an das Buch Quincy (1973) von Carl Andre erinnert. In diesem kleinen Fotobuch beschreibt Andre seine für ihre Granitsteinbrüche bekannte Heimatstadt im industriellen Randgebiet von Boston. Er beauftragte einen Fotografen damit, die Stadt zu dokumentieren und ihre Rohstoffe und natürliche Umgebung besonders zu berücksichtigen. Der Band begleitete eine Ausstellung seiner Skulpturen, das Umschlagbild eines Grabsteins aus Granit veranschaulicht einen schlagenden Vergleich zu seinen eigenen minimalistischen Skulpturen. Hier betont Andre, wie alltägliche industrielle Rohstoffe durch ihren Kontext transformiert werden und die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Funktion und Form verwischen können. Schulz-Dornburg erinnert sich, dass sie zufällig auf Andres Quincy stieß und von seiner einfachen und dennoch transformativen Annäherung an das Alltägliche fasziniert war.[16] Das fotografische Äquivalent zu Andre war damals vielleicht Lewis Baltz, der neben Andre in der Castelli Gallery in New York ausstellte und dessen Schaffen von der Suche nach Form im städtischen Umfeld geleitet wurde.[17] Obwohl Schulz-Dornburgs Bilder aus dem Jemen eine gewisse Abweichung in ihrem Œuvre darstellen, bieten sie einen breiteren Einblick in die Art und Weise ihrer Suche nach Ordnung, Struktur und Form im alltäglichen Umfeld.

Armenien

1996 erreichte Schulz-Dornburg Jerewan, die Hauptstadt der seit 1991 unabhängigen Republik Armenien, wo sie die über das ganze Land verstreuten alten Kirchen und Gebetsstätten zu fotografieren suchte. Diese Idee stand in Verbindung mit einem ihrer früheren Projekte (Sonnenstand, 1991/92), beide gehören zu ihren umfangreichsten und wohl arbeitsintensivsten Werken. Zwei Jahre lang war sie nach und innerhalb von Spanien gereist und hatte kleine Einsiedeleien entlang des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela fotografiert. Die von ihr dokumentierten Bauten aus dem 10. Jahrhundert waren im mozarabischen Stil gestaltet – einer Mischung aus christlicher, islamischer und jüdischer Architektur.[18] Schulz-Dornburgs Interesse an der Verschmelzung religiös unterschiedlich geprägter Kulturen und ihres Niederschlags in der Architektur fiel in den frühen 1990er-Jahren mit dem soziopolitisch beeinflussten Zeitpunkt zusammen, als die Mainstreammedien zunehmend die Unterschiede zwischen den arabischen und vorherrschend muslimischen Kulturen und dem westlichen Christentum hervorhoben.[19] Nicht zufällig wurde die Künstlerin aufgrund ihres Interesses an den Spuren der islamischen und christlichen Geschichte in den Nahen Osten oder das land in-between, in das Zentrum dieser sich kreuzenden religiösen und kulturellen Wege geführt.

In Armenien, das auch als das Land der Kirchen bezeichnet wird, machte sich Schulz-Dornburg in Begleitung eines einheimischen Künstlerfreundes in einem Volga sowjetischer Bauart auf den Weg, um die alten Klöster zu fotografieren. Doch während der Fahrt durch den kleinen Binnenstaat wandte sie sich rasch am Straßenrand auftauchenden Bauten zu, die sie als „eigenartige und faszinierende architektonische Konstruktionen“ bezeichnet – Bushaltestellen.[20] Mit einer kaum existierenden Eisenbahn-Infrastruktur ist das Reisen per Bus die Hauptform des Überlandverkehrs in Armenien, wo ein komplexes Netzwerk von Buslinien oder „marshrutkas“ große und kleine Städte und Dörfer miteinander verbindet. Einsam am Straßenrand und scheinbar im Nirgendwo gelegen, werden die Bushaltestellen viel benutzt und spielen eine entscheidende Rolle im Alltagsleben der Bevölkerung. Schulz-Dornburg fotografierte die Haltestellen so, wie sie sie vorfand, manchmal mit wartenden Menschen, was die Beziehung zwischen Architektur, Funktion und der lokalen Gemeinschaft unterstrich. So dokumentiert die Serie Transit Orte, Armenien (1997–2011) das Alltagsleben, liefert aber auch eine Übersicht architektonischer Funktion und Form. In einem Großteil von Schulz-Dornburgs Schaffen wird Architektur als bergende Behausung und als Beweis für die Fähigkeit der Menschheit betrachtet, sich zu schützen und selbst den härtesten Umweltbedingungen anzupassen. In dem für seinen drastischen Gegensatz von schneereichen Wintern und heißen Sommern bekannten Armenien weist Schulz-Dornburg vielleicht ein wenig ironisch darauf hin, dass die Architektur dieser Bauwerke einen gewissen Schutz andeutet, während sie gleichzeitig die Nutzer stark dem Wetter aussetzt. Damit lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Kluft zwischen ideologischer Vision und funktionaler Form.

In den 1970er- und 1980er-Jahren errichtet, bilden diese Bushaltestellen Teil der sowjetischen Vergangenheit des Landes. Sie wurden unter Leonid Breschnew konstruiert und repräsentierten zur Zeit ihrer Entstehung das goldene Zeitalter sozialistischen Aufbaus. Einzelne Architekten wurden damit beauftragt, die Bushaltestellen entweder individuell oder als Serienmodell zu entwerfen, die dem genauen Standort angepasst und modifiziert werden konnten. Die Architekten nutzten diese Aufträge häufig als Gelegenheit, neue Ideen zu erproben, die vielleicht bei Aufträgen im größeren Maßstab nicht toleriert worden wären.[21] Sei es aufgrund schlechten Baumaterials, fehlerhafter Konstruktion oder mangelnder Instandhaltung – diese Strukturen, einst ein Symbol für kreative und spektakuläre Leistungen, sind nun das Relikt einer politischen Vergangenheit, deren nachhaltiger Einfluss im Kontrast zu ihrem eigenen physischen Zustand steht. Die Zeit existiert hier auf zwei Ebenen, in Gestalt der spürbaren Alterung und des Verfalls, der in jeder dieser Strukturen gegenwärtig ist, und durch ein theoretisches Verstreichen der Zeit in Bezug auf den historischen Moment eines Landes, das sich von dem alten gescheiterten Regime in Richtung auf eine unabhängige Zukunft bewegt. Limbo oder auch Vorhölle ist der Begriff, der einem einfällt, wenn man diese Bilder betrachtet; wenngleich einige nur fünf Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgenommen wurden, zeigt die Serie ein Land, das sich noch im Schock befindet, nachdem es den totalen Zusammenbruch und die völlige Neustrukturierung der vertrauten Existenz erlebt hat. Diese Erfahrung ist nicht einzigartig, durchlebten sie doch gleichzeitig alle ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken, doch hatte sie eine durchschlagende Wirkung auf die Bevölkerung. Die ukrainischen Künstler Sergiy Lebedynskyy und Vladyslav Krasnoshchok, die den Zerfall einer modernen Supermacht miterlebt haben, beschreiben ihre Erfahrungen:

In der Schule hat man uns beigebracht, dass wir im besten aller Länder, das anderen Ländern überlegen ist, geboren wurden und dass wir mit Sicherheit den Sieg über alle anderen erringen würden. Wenig später hörte das Land auf zu existieren.[22]

Dieser drastische Wandel und totale Umsturz, der sich im Lauf der Zeit vollzog, fühlte sich für viele Menschen an, als sei er über Nacht gekommen; gleichzeitig verdeutlichte er einen dramatischen Riss im Zeitablauf. Mit dieser Erfahrung zerbricht unsere Auffassung von der linearen chronologischen Zeit, bei der Vorher und Nachher die gegensätzlichen Pole besetzen. Doch Schulz-Dornburgs Schaffen im Verlauf einer Periode von zehn Jahren stellte nicht nur das Zerbrechen und die Vorhölle heraus, sondern machte auch den Übergang sichtbar. Der Historiker Serhii Plokhy erklärt: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist wie der Zerfall vergangener Reiche eher ein Prozess denn ein Ereignis. Und der Untergang des letzten Reiches [der Sowjetunion] ist heute noch immer in Gang.“[23] Schulz-Dornburgs ausgedehnte Dokumentierung der in Armenien gewonnenen flüchtigen Eindrücke von im Lauf der Zeit entstandenen, raumgreifenden Transformationen verdeutlicht, wie sich Momente des Übergangs in den langen Zyklen der Zeit über Jahre oder sogar Jahrzehnte ausdehnen können.

Abb. 7 Ursula Schulz-Dornburg: "Erevan – Yegnward", 1997, 44,7 × 34,8 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

Der Niedergang der Sowjetunion und der Drang der nunmehr unabhängigen Nationen, viele Spuren dieser Vergangenheit auszumerzen, verdeutlicht, dass das gebaute Umfeld häufig das ideologische Konzept seiner Schöpfer überlebt. Auch ist eine vollkommene Auslöschung der einstigen Ideologie, ob religiös oder politisch, schwer zu erreichen. So waren zum Beispiel während der Sowjetherrschaft religiöse Ikonografie und die Kirche weitgehend ausgegrenzt, doch bei genauerem Hinsehen lassen sich christlich geprägte Anzeichen traditioneller Architektur entdecken, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Die Schirm-Strukturen, ein relativ weit verbreitetes und sehr nachhaltiges Design für eine Bushaltestelle, beschwören mit ihren kantigen Formen einen Archetypus traditioneller Dachkonstruktionen der christlichen armenischen Kirchen (Abb. 7).[24] Diese Übertragung einer religiös geprägten Symbolik auf eine funktionale, in Massenproduktion hergestellte und offen sichtbare alltägliche Form unterstreicht die Erkenntnis, dass die Vergangenheit schwer zu löschen ist.[25]

Mit Transit Orte, Armenien verfolgte Schulz-Dornburg eine andere Vorgehensweise als in vielen ihrer übrigen Projekte, bei denen sie das betreffende Land nur für kurze Zeit besuchte, um eine bestimmte Bildfolge zu fotografieren. Zwischen 1996 und 2006 kehrte sie mehrfach nach Armenien zurück und schuf mehr als 50 Werke. Die Bilder dieser Serie präsentiert sie in unregelmäßigen Rastern, die an das geometrische Gestaltungsprinzip des Konstruktivismus denken lassen. So betont die Installation sowohl die brutalistische Betonarchitektur der Bushaltestellen als auch die alles überspannende Ästhetik der sowjetischen Ideologie.

Georgien und Aserbaidschan

1998, im Anschluss an eine ihrer Reisen nach Armenien, fuhr Schulz-Dornburg in das benachbarte Georgien und dort in die Region Kachetien im Osten des Landes, wo die Serie 15 Kilometer entlang der georgisch-aserbaidschanischen Grenze (1998) entstand. Sie reiste auf der georgischen Seite der Grenze zwischen diesen beiden nunmehr unabhängigen Nationen, um die Wohnhöhlen und Höhlenklöster zu fotografieren, die aufgrund des willkürlichen Grenzverlaufs dies- und jenseits der Grenze liegen und darum seit der Unabhängigkeit kleinere Auseinandersetzungen ausgelöst hatten.[26]

Das über ein niedriges Mittelgebirge verstreute einzigartige Netzwerk der Höhlenklöster und -städte soll im 6. Jahrhundert von dem Heiligen David Garedscha gegründet worden sein, einem der 13 assyrischen Mönche, die aus Mesopotamien gekommen waren, um das Christentum zu verbreiten. Die Missionare suchten Schutz und Sicherheit in den natürlichen Sandsteinhöhlen. Die Anlage war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein aktives Kloster, das im 20. Jahrhundert aufgrund der Zurückdrängung der Religion während der Sowjetherrschaft stillgelegt wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Gelände von der sowjetischen Armee als Übungsplatz für die Artillerie benutzt, offensichtlich weil das Terrain jenem Afghanistans ähnelte.[27] Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der daraus resultierenden neuen Grenzziehung befand sich das alte Kloster unversehens auf der Trennlinie zwischen zwei Staaten.

Das Streben nach einer schützenden Behausung und die Art, wie Menschen Geborgenheit suchen und gestalten, stehen im Mittelpunkt von Schulz-Dornburgs Schaffen. Von Anfang an, ob es sich nun um dauerhafte Bauten oder eine vorübergehende Bleibe handelte, galt ihr Interesse der Fähigkeit des Menschen, sich auch an das unwirtlichste Umfeld anzupassen. Doch die Höhlen in 15 km entlang der georgisch-aserbaidschanischen Grenze berühren die Künstlerin wohl noch auf andere Art. 1938 in Berlin geboren, erlebte Schulz-Dornburg den Zweiten Weltkrieg als Kind. Die letzten Kriegsjahre verbrachte sie in Süddeutschland nahe der umkämpften französischen Grenze, „an vorderster Front“.[28] Da ihre Stadt durch die Bombardierungen der Alliierten zerstört wurde, fanden Schulz-Dornburg und ihre Familie in Luftschutzkellern Zuflucht. Von daher ihre Erklärung: „Höhlen bedeuteten schon immer Schutz für mich, ich lebte mit ihnen und wir pflegten uns als Kinder in ihnen zu verstecken, weil wir so nahe an der Grenze wohnten.“[29] Das universelle Bedürfnis der Menschheit nach Geborgenheit steht im Mittelpunkt von Schulz-Dornburgs Denken. Weil sie diesen Schutz vielleicht unbewusst sucht, würdigt ihr Schaffen die weit zurückreichende Geschichte der Architektur und ihre beherrschende Rolle für die menschliche Existenz. Über das grundlegende Schutzbedürfnis hinaus zeigt sie auf, dass architektonische Strukturen auch zu anderen Zwecken genutzt werden können: als Stätten des Gebets und Zellen zur Meditation, aber auch als Gemeinschafts- und Versammlungsräume.

Abb. 8 Ursula Schulz-Dornburg: "15 Kilometer entlang der georgisch-aserbaidschanischen Grenze", 1998/99, 15 × 10 cm, C-print
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg
Abb. 9 Ursula Schulz-Dornburg: "15 Kilometer entlang der georgisch-aserbaidschanischen Grenze", 1998/99, 23 × 25 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

Wie in Sonnenstand sind das Licht und der Stand der Sonne für dieses Werk entscheidend, denn sie erhellen die ansonsten undurchdringlich dunklen und schwer zu ergründenden Räume, von denen einige nur Platz für einen einzigen Bewohner bieten. Die Zeit hat diesen Orten ihren Stempel aufgedrückt, historische und moderne Graffitti säumen die Wände. In einigen Fällen sind gut erhaltene Fresken mit Texten aus der Entstehungszeit des georgischen Alphabets zu sehen, andernorts präsentiert sich das neuere Kyrillisch, vermutlich von Wehrpflichtigen aufgetragen (Abb. 8). Hieraus lassen sich mehrere Historien gleichzeitig ablesen, da der Palimpsest aus Text und Bild sowohl das Vergehen der Zeit als auch den Wandel in Anwendung und Funktion der Schriften vor Augen führt.

Zwischen den Aufnahmen der Höhlen verstreut sind spektakuläre Landschaftsbilder: Blicke auf eine mondähnliche Landschaft bis weit über die Grenze nach Aserbaidschan (Abb. 9). Ohne ihn besonders hervorzuheben, betont Schulz-Dornburg durch den Blickpunkt der Aufnahmen die Größe und Isolation der Höhlen und veranschaulicht die Vergeblichkeit des Bemühens, das verbotene Land jenseits der Grenze zu erreichen. Einige der Höhlen liegen genau auf oder jenseits der Grenze und erschweren es den Besuchern, das Gebiet zu erkunden. Mit diesen subtilen Hinweisen wirft 15 km entlang der georgisch-aserbaidschanischen Grenze Fragen zur willkürlichen Festlegung von Grenzen in einer Region auf, die seit Langem durch die Kartografie der Macht geschädigt ist. Stalin war dafür bekannt, Grenzen neu festzulegen, und er nahm im Rahmen eines Machtspiels zwischen den sowjetischen Staaten und den ethnischen Minderheiten Landumverteilungen vor.[30] Berüchtigter noch ist das geheime Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich vom 8. Mai 1916: Es ordnete Teile der arabischen Welt im Nahen Osten mit Blick auf einen Sieg der Alliierten der britischen bzw. französischen Einflusssphäre zu. Wenn das Abkommen auch seiner Form nach niemals verwirklicht wurde, so bildete es doch die Basis für die Teilung des Osmanischen Reiches, Syriens und Persiens in den heutigen Iran, Irak, Syrien und die Türkei. Die aus dem Sykes-Picot-Vertrag resultierenden Grenzen, als abstrakte Linien auf einer Landkarte ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Strukturen oder eine geografische Vermessung des Landes von den Kolonialmächten festgelegt, werden von einigen Wissenschaftlern als Grund für die bis heute in diesem Gebiet anhaltenden Konflikte angesehen.[31]

Saudi-Arabien

Im Januar 2003 reiste Schulz-Dornburg nach Saudi-Arabien, um die osmanische Eisenbahnlinie, die einst Damaskus mit Medina verband, zurückzuverfolgen. Daraus entstand die Serie Von Medina an die jordanische Grenze (2002/03). Die zwischen 1900 und 1908 gebaute Bahn war eines der großen Projekte der Ingenieurskunst des Osmanischen Reiches, dennoch offenbaren die Konstruktion und schließliche Aufgabe eine komplizierte und vielschichtige Geschichte alter Allianzen, zerfallener Reiche und kolonialer Interventionen, die alle in Schulz-Dornburgs Bildern aufscheinen.

Die Bahn war unter der Leitung des deutschen Ingenieurs Heinrich Meissner geplant und gebaut worden, um Damaskus mit Mekka und somit Konstantinopel, die Kapitale des Osmanischen Reiches, mit der Heiligen Stadt zu verbinden. Die Absicht war, Pilger zu befördern und gleichzeitig die arabische Region administrativ und militärisch im Griff zu behalten. 1914, als der Erste Weltkrieg begann, war die 1322 Kilometer lange Strecke von Damaskus nach Medina fertiggestellt und wurde von bis zu 300 000 Menschen pro Jahr genutzt.[32] Die Bahnlinie wurde jedoch regelmäßig von lokalen Beduinen attackiert, die offensichtlich von dem britischen Offizier T. E. Lawrence alias Lawrence von Arabien angefeuert wurden, die Bahn gezielt zerstörten und sich des Baumaterials bemächtigten. Infolge des Zerfalls des Osmanischen Reiches wurde das Projekt zu einem großen Teil aufgegeben und geriet aufgrund der harten Umweltbedingungen rasch in Verfall.

Fünfundachtzig Jahre später ging Schulz-Dornburg daran, der Strecke der Hedschas-Eisenbahn zu folgen. Zwar war ein großer Teil des Schienennetzes abgebaut, von der Wüste verschluckt oder der Verrottung preisgegeben, doch sie entdeckte, dass die nun ungenutzten Bahnhofsgebäude in der weiten Wüstenlandschaft überdauert hatten. Die Bauten sind alle nach einem standardisierten Design und wohl in Hinblick auf Funktionalität und Haltbarkeit L-förmig angelegt. Die gegen den flachen Horizont der Wüste aufgenommenen Bilder offenbaren die überwältigende Abgeschiedenheit der rauen und erbarmungslosen Umgebung, in der nur gelegentlich ein Stück Schienenstrang oder eine vor sich hinrostende Lokomotive zu sehen ist. Die Fotos zeigen die harte Realität und den Niedergang eines gescheiterten Reiches, doch zeugen sie auch von einem weit ausgedehnteren Zyklus von Zeit und Verfall, denn während die lebendige Erinnerung an das Imperium verblasst, bevölkern die Bauten immer noch die Landschaft.

Abb. 10 Ursula Schulz-Dornburg: "Von Medina an die jordanische Grenze", 2003, 31,3 × 25,3 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

In Von Medina an die jordanische Grenze erinnert Schulz-Dornburg den Betrachter daran, dass die materielle Geschichte schwer zu tilgen ist. Die Architektur und die gebaute Umwelt, die oberflächlich gesehen zum Ziel hat, den Menschen zu dienen, besitzt auch eine unheimliche Funktion. In der Rückschau hat man erkannt, dass die Infrastruktur von imperialen Mächten benutzt wird, um ihr Netz über große Regionen zu werfen, sie zu kontrollieren und strategisch im Griff zu behalten – und das häufig im Namen der Modernisierung.[33] Schulz-Dornburgs Projekt erzählt von gescheiterten Ambitionen, Fehlurteilen und der Unfähigkeit des Menschen, unwirtliche Landschaften nutzbar zu machen. Es erinnert uns auch daran, dass eine Modernisierung nicht immer mit offenen Armen aufgenommen wird, denn einigen gilt sie als Besetzung eines Territoriums oder Zerstörung von Traditionen, zumal jahrhundertelang gepflegte Nomadenwanderungen über Land, die Außenstehenden als überholt erscheinen, schwer zu verändern sind.

Durch ihr Interesse an Anthropologie und Archäologie war Schulz-Dornburg von der historischen Bedeutung der Strecke fasziniert. Wenngleich die Eisenbahn als Maßnahme der Modernisierung gefeiert wurde, war doch die alte Route an sich über Jahrhunderte als Teil der wirtschaftlich bedeutenden Seidenstraße wie auch als Pilgerweg nach Mekka für Reisen zu Fuß, mit dem Kamel und in Karawanen genutzt worden. Schulz-Dornburg dokumentierte die Spuren dieser Reisen aus einer Zeit lange vor der Planung der Eisenbahnstrecke und hielt Markierungen und Graffiti fest, die auf Arabisch, Aramäisch und mit unentzifferbaren Schriftzeichen aus uralten Sprachen in Stein graviert waren. (Abb. 10). Einige der Nahaufnahmen außerhalb dieser Serie zeigen Graffiti, die sie auf Felsen und Rastplätzen entlang der Strecke entdeckte. Sie illustrieren, dass mehrere historische Ebenen gleichzeitig an einem Ort existieren, und fangen bildlich das ein, was die Künstlerin „vertikal aufgebaute Schichten von Zeit und Historie“ nennt.[34] Sie richtet ihr Objektiv auf die scheinbar unfruchtbare Wüstenlandschaft und enthüllt das Verborgene oder Übersehene, indem sie die Vorstellung des linearen Zeitablaufs aufbricht, um vielfältige Geschehnisse in einem Bild offenzulegen. So zeigt die Reihe Von Medina an die jordanische Grenze gleichzeitig ihre Reise im Jahr 2003, die Ereignisse von 1917 und die alten überlieferten Routen, von denen mit dieser Kamerafahrt gesagt wird, dass die historischen Migrations- und Handelswege weiterhin bestehen bleiben, auch wenn sich unsere Mittel und Methoden verändern mögen. Dadurch dehnt Schulz-Dornburg die Zeit und benutzt das Bild als Eingangstor zu einer Sicht auf vielfältige zeitliche Ebenen und Ereignisse, während sie mit ihrer Kamera dicht unter der Oberfläche wichtige Spuren enthüllt, die eine genauere Untersuchung erfordern.

Wie Ed Ruscha mit Twentysix Gasoline Stations (1962) oder Mark Ruwedel mit seinem zeitgenössischen Œuvre Westward the Course of Empire (1996–2006) folgte Schulz-Dornburg dem genauen Verlauf der Eisenbahnstrecke durch Saudi-Arabien von Tabuk im Norden bis Medina im Südwesten, um jedes Bahnhofsgebäude entlang der Route zu fotografieren. Doch leider sind die Dinge in der Region häufig nicht so einfach. Schulz-Dornburg kam Ende Januar 2003 an, besaß eine Erlaubnis zum Fotografieren und erhielt eine Aufsichtsperson, die sie fahren sollte. Doch eine Woche nach dem Beginn des Projekts kündigte der amerikanische Präsident George W. Bush die bevorstehende Invasion des Iraks an, wodurch das Projekt verkürzt und schließlich abgebrochen wurde. Erneut werden wir an Schulz-Dornburgs frappierenden Zeitbezug erinnert oder vielmehr ihre Fähigkeit, im Voraus zu spüren, wenn sich Instabilität oder Wandel am Horizont abzeichnen.

Iran

Abb. 11 Ursula Schulz-Dornburg: "Gur-e Dokhtar", Iran, 2006, 30 × 30,4 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

Im Jahr 2006 reiste Schulz-Dornburg in den Iran, angeregt von Erich F. Schmidts Buch Flights Over Ancient Cities of Iran (1940), einem erstaunlich modernen Werk mit 119 Fotos, zumeist Luftbildaufnahmen. Einige von ihnen sind durch ein Netzwerk roter Linien verbunden, welche die auf die Bilder bezogenen Flugrouten markieren. Die formale, aber abstrakte Kartierungsmethode Schmidts sprach Schulz-Dornburg mit ihrem Interesse an der visuellen Darstellung der Landschaft stark an. Im Iran fotografierte sie das Grab von Kyros dem Großen in Pasargadai. Es wird angenommen, dass das Grabmal 530 v. Chr. erbaut wurde und die sterblichen Überreste von Kyros II., dem Begründer des Persischen Reiches, enthält. Doch bei ihrer Ankunft in Pasargadai wurde das berühmte Grab gerade restauriert und war unter Gerüsten verborgen. So setzte sie ihre Reise in den Süden nach Gur-e-Dokhtar, Jareh, südlich der Provinz Fars fort und fotografierte ein anderes, architektonisch ähnliches, aber im Maßstab etwas weniger prächtiges Grabmal. Bei diesem Bau könnte es sich um einen Vorläufer des berühmten Kyros-Grabmals handeln, das möglicherweise Vorfahren von Kyros dem Großen zuzuordnen ist, etwa Teispes oder Kyros I.[35] In einem Stil fotografiert, der inzwischen zu ihrem Markenzeichen geworden ist – frontal und zur Mitte hin fluchtend – stehen die beiden Bilder mit den angrenzenden Seiten des Grabmals für Symmetrie und Ordnung. So sehr Schulz-Dornburg jedoch die Ordnung vertritt, spielt doch deren Störung eine ebenso wichtige Rolle: Die Künstlerin unterbricht das Diptychon mit einem dritten Bild, das eine menschliche Gestalt im Hintergrund zeigt (Abb. 11). Damit offenbart sich der zunächst relativ bescheiden wirkende Bau als monumental, was augenblicklich seine Bedeutung und seinen Status erhöht. So wird seine historische Bedeutung reflektiert, denn es wird angenommen, das berühmte Grabmal des Kyros sei durch Alexander den Großen berühmt geworden, der das Monument bei seiner Eroberung Persiens zwei Jahrhunderte später aufsuchte, um dem großen Herrscher zu huldigen.[36] Die Grabarchitektur soll Einflüsse aus der gesamten Region enthalten und eine gegenseitige kulturelle Befruchtung belegen. Diese Idee steht im Einklang mit Schulz-Dornburgs Erforschung miteinander verflochtener historischer Ereignisse und zeitlicher wie herrschaftlicher Zyklen durch die Geschichte.

Im Jemen wie im Iran machte Schulz-Dornburg aus Gründen, die sich ihrem Einfluss entzogen, relativ wenige Fotos, sodass hier eine Lücke in ihrem Œuvre besteht. Diese Leerstelle erzählt eine interessante Geschichte, da sie die komplexen Umstände ihres Reisens mit Aufnahmegenehmigung und Zeitfenster offenlegt, die ihre Arbeit entweder ermöglichen oder – wie in diesen beiden seltenen Fällen – ihre Fertigstellung verhindern können. Ungeachtet der Tatsache, dass Schulz-Dornburg ihr Projekt nicht abschließen konnte, wirken diese Bilder wie ein Störfall oder Riss, der einen Kontrast zu den größeren narrativen Zusammenhängen bildet.

Syrien

Abb. 12 Ursula Schulz-Dornburg: "Verschwundene Landschaften, Palmyra, Syrien", 2010, 24 × 24,1 cm, Barytabzug
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

2005 unternahm Schulz-Dornburg ihre erste und 2010 ihre zweite Reise nach Syrien und besuchte bei beiden Gelegenheiten die antike Stadt Palmyra. An der einstigen Südgrenze des römischen Mesopotamien gelegen, war Palmyra ein entfernter Außenposten des Reiches und ist heute Teil Syriens. Die Ruinen von Palmyra sind eine weltberühmte archäologische Stätte und sie wurden von Fotografen schon zur Zeit der ersten Albuminpapierabzüge von Louis Vignes 1864 dokumentiert.[37] Wie ihre Vorläufer fotografierte Schulz-Dornburg in diesem reizvollen Gebiet die ikonischen Anlagen, den Baal-Tempel und das Tal der Gräber, eine ihrer wenigen Farbaufnahmen. Ihre Fotografien dieser Motive vermehren die Fülle der bildlichen Dokumentation der existierenden Stadt. Doch statt sich nur auf die ikonischen Bauten zu konzentrieren, wandte sich Schulz-Dornburg auch den weniger kunstvollen Gebäuden zu. Zugunsten der bescheideneren Gräber, die aufgrund ihrer geringeren Schwerpunkthöhe weithin intakt geblieben waren, sah sie über die berühmten Turmgräber hinweg, die zur Aufnahme der sterblichen Überreste der Reichen dienten. Schulz-Dornburg fotografierte die Gräber von allen vier Seiten, wobei ihr frontaler Ansatz erneut die symmetrische Architektur der Bauwerke betont. Ihr Interesse am Alltäglichen kommt zum Tragen, wenn sie ihre Kamera auf eine schlichte Steinmauer richtet, die manch einer geneigt wäre als eine der größten je gebauten Promenaden zu betrachten. Die Einfachheit dieser Konstruktion ist von Bedeutung, denn sie symbolisiert, dass sich eine feste Struktur zur architektonischen Form entwickelt. Aus diesen Nahaufnahmen der Mauer ersehen wir keine Ruinenstadt mehr, sondern eine präzise geplante und technisch fortgeschrittene Stadt, die sich auf starken Fundamenten erhebt (Abb. 12). Doch diese Bilder stellen auch Fragen zur Authentizität. Innerhalb der vertikal geschichteten Ebenen der Geschichte ist die Zeit schwer zu entziffern. Dieses Phänomen bezeichnet Schulz-Dornburg als „vertikale Geschichte“ oder „vertikale Zeitleiste“, ein Begriff, mit dem sie die Geschichte als Schicht um Schicht in einer vertikalen Reihenfolge aufgebaut beschreibt. Hier beginnen wir uns zu fragen, ob die Mauer Teil des ursprünglichen Bauwerks war oder Jahrhunderte später errichtet wurde. Und spielt das eine Rolle?

 

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Im Verlauf der Geschichte kommt es zu Ereignissen, die die physische und soziale Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verändern; in der Rückschau werden diese Ereignisse häufig als „Punkt ohne Wiederkehr“ gesehen.[38] In moderner Zeit dürften Einschnitte wie etwa der Erste und der Zweite Weltkrieg Beispiele dieser „points of no return“ sein, ebenso wie die Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki, der Zerfall der Sowjetunion und die Terroranschläge vom 11. September 2001. In der Antike war der Untergang des Römischen Reiches 410 n. Chr. solch ein Markierungspunkt. Im Jahr 2010, über zwei Jahrtausende danach, reiste Schulz-Dornburg nach Syrien und fotografierte Palmyra, den Außenposten mit Kultstatus des Römischen Reiches, ein Jahr vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, der das Land auch heute noch spaltet. Einige Jahre später, 2015 und 2017, unter der Besatzung des sogenannten Islamischen Staates in Irak und Syrien und der Levante (ISIS) wurden viele der Überreste von Palmyra absichtlich zerstört und die Relikte der 4000 Jahre alten Kultur vernichtet. Der Aufseher über die Anlage, Khaled al-As’ad, ein namhafter Archäologe und pensionierter Direktor des Antikenmuseums, wurde in Palmyra geboren und lebte dort bis zu seiner Ermordung im Jahr 2015.[39] Dieser Bildersturm bedeutet, dass die fotografische Dokumentierung von Palmyra, wie sie von Schulz-Dornburg und anderen durchgeführt wurde, nunmehr eine neue Rolle als kulturgeschichtliches Archiv übernimmt, parallel zu dem ursprünglichen Fotoprojekt, aber ebenso wichtig wie dieses.

Die Zerstörung Palmyras untermauert Schulz-Dornburgs Theorie von der Zeit als einem immerwährenden Zyklus. Trotz des Ablaufs von Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden ist die Zeit nicht eingefroren, nichts ist sicher, und die Zerstörung schließt häufig den Kreis. Diese zyklische Auffassung der Zeit in Schulz-Dornburgs Werk bedeutet auch, dass der Kontext, in dem wir ihre Bilder sehen, fließend ist und sich in ständigem Wandel befindet. Aus unserer jetzigen soziokulturellen und politischen Position im Jahr 2018 gesehen, wird ihr Œuvre zweifellos nach dem nächsten Punkt ohne Wiederkehr eine andere Bedeutung und Perspektive annehmen.