VON MEDINA AN DIE JORDANISCHE GRENZE
2002/03
Julian Heynen: Bei diesen Bildern handelt es sich im wahrsten Sinn des Wortes um eine Sequenz: Sie folgen der genannten Strecke von Süden nach Norden. Weg, Strecke, Ziel: Der Blick geht häufig der Trasse entlang in die Ferne. Einerseits handelt es sich bei dieser Strecke durch die Wüste um einen uralten Pilgerweg. Andererseits erscheint er in den Aufnahmen in der (wiederum schon lange verfallenen) Gestalt eines Transportmittels der Moderne.
Ursula Schulz-Dornburg: Gebaut wurde die Eisenbahn von Damaskus nach Medina vom Osmanischen Reich mit technischer Hilfe des Deutschen Reiches kurz nach 1900. Sie war also jenseits des Pilgertransports ein Instrument der Kolonialpolitik in diesem Teil Arabiens. Ähnlich wie in Mesopotamien haben mich auch hier zuerst einmal die verschiedenen historischen Schichten dieses Weges interessiert. Das beginnt schon im 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, geht dann weiter mit der Weihrauchstraße und der islamischen Pilgerroute, um schließlich bei den Resten der Eisenbahntrasse zu enden. Und dann gibt es immer wieder die gleichen einfachen Bahnhofsgebäude, die von einem deutschen Ingenieur geplant worden sind. Sie wirken total fremd in dieser Landschaft, so als ob ein Künstler der Minimal Art oder Land Art dort ein Projekt verwirklicht hätte.
JH: Hat diese Beobachtung der Reste der Eisenbahn vielleicht etwas mit Vergeblichkeit zu tun, nach dem Motto: „Die Wüste gewinnt“?
USD: Nein, überhaupt nicht. Auch wenn die Dinge langsam im Sand verschwinden, weil es immer wieder Verfall, Zerstörung und Krieg gibt, bleiben Spuren, die in unserer Betrachtung gleichsam aktiviert werden können. Manche Spuren sind kaum wahrzunehmen, geschweige zu entziffern.
JH: Das Verfolgen der unterschiedlichen historischen Spuren läuft mitunter an einem Punkt aus, wo Definitionen oder Begriffe nicht mehr greifen.
USD: Wie auch bei anderen Werkgruppen ist aber auch hier der Horizont besonders wichtig als eine Linie, an die ich mich halten kann.
JH: Der Horizont scheint für dich so etwas wie eine Wasserwaage zu sein, so als ob er der Austarierung deines eigenen Standpunkts gegenüber dem Standpunkt des Objekts diente.
USD: Formal gibt die Horizontlinie ohne Frage dem Bild eine bestimmte Sicherheit, eine Festigkeit. Aber darüber hinaus ist der Horizont auch die Linie, „wo die Erde aufhört“, also eine Grenze. Mir hat es immer gefallen, nicht nur hinunter in die Zeit zu gehen, sondern auch hinauf in den Kosmos.
JH: Der Horizont ist auch ein Land In-Between oder ein Niemandsland. Immer wenn man glaubt, ihn erreicht zu haben, ist er wieder von einem fortgerückt. Man kann ihn de facto nie erreichen, er bleibt ein Ort der Nicht-Erfüllung.
„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018