MEMORYSCAPES

ST. PETERSBURG, 2000

UBI NEC AQUILA

Julian Heynen: Wie kam es zu dem Titel? Sonst verwendest du ja nur Orts- oder Objektbezeichnungen. 

Ursula Schulz-Dornburg: Der hängt mit einer der in diesen Dioramen des Arktis- und Antarktismuseums in Sankt Petersburg dargestellten Rettungsaktionen zusammen. „Ubi nec aquila“ ist das Motto einer Adelsfamilie, das sich auf der Kleidung eines Mitgliedes einer italienischen Polarexpedition befand. 

JH: „Dort, wo kein Adler mehr fliegt“. Das ist nicht nur eine richtige Aussage über die Polgebiete, sondern hat auch einen passenden Nebensinn in Bezug auf den in den Miniaturszenen beschworenen russischen Heroismus. Aber was hat dich an den Dioramen besonders interessiert? 

USD: Sie sind im Jahr 1938 entstanden, meinem Geburtsjahr. Ich habe mich gefragt, was war damals in der Sowjetunion los, am Höhepunkt des stalinistischen Terrors? Und da diese Dioramen so schön gemacht sind, habe ich mich auch gefragt, ob sie vielleicht von Künstlern stammen könnten, die damals nicht frei arbeiten durften. Die Dioramen sind eine Welt, die sehr klein ist, die man aber ganz groß und weit denken kann. Die Aufnahmen habe ich mit einer Ixus-Kamera auf Farbfilm gemacht. Die Negative sind sehr klein, die Abzüge sind dann für meine Verhältnisse jedoch sehr groß. Dadurch entsteht auf den Bildern eine Unsicherheit: Sind das reale oder sind das fiktive Szenen? Und diese großen Abzüge verändern auch die Wahrnehmung meiner übrigen, deutlich kleineren Fotografien. Es entsteht eine Verwirrung beim Betrachter: War sie wirklich dort? – Was mich in diesem und in anderen russischen Geschichtsmuseen fasziniert hat, war die ganz andere Präsentationsweise als bei uns. Daher auch der Titel meiner Bilderserie im Englischen: Memory Escapes … 

JH: … ein passender Versprecher: Du meinst Memoryscapes … 

USD: … ich meinte die Art und Weise, wie zum Beispiel jeder Präsident die Geschichte in solchen Museen auf andere Weise darstellen lässt. 

JH: Es ist paradox: Wir haben es in den Dioramen mit Szenen in der Weite der Eiswüsten zu tun, die jedoch auf die Maße von Vitrinen reduziert sind. Ein sowjetischer Heroismus ist absurderweise heruntergedampft auf ein Modellformat. 

Du hast viele Bilder von großen, weiten, leeren Landschaften gemacht. Erstaunlicherweise findest du jedoch etwas Ähnliches auch in diesen nachgestellten Miniaturen. Gleichzeitig aber führst du hier auf überraschende Weise so etwas wie den Zweifel am Bild oder zumindest eine gewisse Verunsicherung über den Realitätsgrad der Darstellung ein. Ein solcher Gedanke kommt bei den anderen Werkgruppen kaum oder nie auf.

 

„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018.