SONNENSTAND

1991/1992

Julian Heynen: Das Geschehen dieser Sequenz spielt sich im dunklen Inneren kleiner Kapellen ab. Du hast aber auch jeweils eine Aufnahme des Gebäudes von außen hinzugefügt.

Ursula Schulz-Dornburg: Ich wollte einen Hinweis darauf geben, dass der Horizont durch den wandernden Lichtstrahl gleichsam ins Innere mitgenommen wird. Der Lichtstrahl macht sichtbar, wie die Erde sich im Laufe des Tages um sich selbst und durch die Jahreszeiten hindurch um die Sonne dreht. Für mich ist das Entscheidende das Licht und die Erfahrung der Abhängigkeit des Lichtstrahls im Raum von der geografischen Lage der Kapelle, der Dicke ihrer Mauern, der Größe und Form ihrer Apsis und der Genauigkeit von deren Ausrichtung nach Osten. Doch ausschlaggebend war nicht zuletzt, wie sich der Lichtstrahl auf dem Altar bricht. Bei der Außenaufnahme der Kapelle sind mir die mozarabischen Referenzen in der Architektur wichtig, da sie Zeugnisse einer Grenz- und Übergangssituation zwischen Christentum und Islam im 10. und 11. Jahrhundert in Spanien sind.

JH: Du hast in diesem Zusammenhang auf den sogenannten Kalender von Cordoba hingewiesen. Er erscheint im Kontext deiner ja sehr reduzierten und abstrakten Bilder wie eine Auffaltung der Thematik ins Lebensweltliche hinein. Dort ist Monat für Monat auf sehr konkrete und sinnliche Weise nicht nur vom Sternenhimmel die Rede, sondern auch von vielem, was in der Natur geschieht und wie die Menschen in ihr agieren.

USD: Das ist ein arabischer Text von 961, der auf sehr schöne Weise das zum Ausdruck bringt, worum es mir bei den sehr minimalen und konzentrierten Bildern im Sinn einer mitgedachten, mitschwingenden Metaebene geht.

 

„Die Vertikale der Zeit“, aus Gesprächen zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Julian Heynen im Dezember 2017 und Januar 2018.

Altar mit mozarabischer Referenz, Spanien, 1991
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

 

 

 

 

 

 

Der Kalender von Córdoba 

Die Steine von Arruaba
Copyright: Ursula Schulz-Dornburg

Der »Kalender von Córdoba« wurde um 961 von dem mozarabischen Bischof Rabi' Ben verfaßt und dem Kalifen gewidmet. Der Kalender von Córdoba gibt nicht nur an, wie der Himmel in jedem Monat aussieht, wann die Sonne und die wichtigsten Sternbilder auf und untergehen, wie lange Morgen- und Abenddämmerung dauern – was für die Moslemen wichtig war, um die Gebetszeiten einzuhalten -, er erwähnt auch die medizinischen Anwendungen: Die jährliche Bewegung des Himmels bewirkt einen Wechsel der vier natürlichen Eigenschaften warm und kalt, feucht und trocken, die nicht nur das Wachstum der Pflanzen, sondern auch den Zustand des menschlichen Körpers je nach dessen Veranlagung beeinflussen. (Titus Burckhardt: Das maurische Spanien, Seite 92, 93)  

(Übersetzung: Frieda Grafe)

Januar 
Folgende Dinge will ich anführen

Das Wasser der Flüsse scheint warm, und die Erde dampft. In den Bäumen steigen die Säfte. Die Vögel paaren sich; die valenzianischen Falken bleiben in den Nestern und beginnen zu treten. Die Pferde grasen in dem aufkeimenden Grün, die Kühe kalben um die Wette, es gibt Milch im Überfluß; Gänse und Enten bekommen Küken. Man steckt die Setzlinge in den Boden für Kernobst aller Art, ebenso die Reiser; die Stützen für Oliven-, Granatapfel und andere Bäume ähnlicher Art werden aufgestellt. Die frühen Narzissen stehen in Blüte; die Spaliere für die ersten Reben und die Pflanzen, die keine Tafeltrauben liefern, werden beschnitten; der frühe Portulak wird gesät und Zuckerrohr geerntet. Zedratkonfitüre wird zubereitet, ebenfalls Sirup von sauren Zitronen und Karotten werden eingemacht.


Februar 
Folgende Dinge will ich anführen

Die jungen Vögel schlüpfen aus, die Bienen pflanzen sich fort, die Meerestiere beginnen ihre Wanderschaft; unter der Obhut der Frauen beginnen die Seidenraupen zu schlüpfen; die Kraniche kehren zu den Flußinseln zurück. Man pflanzt Safranzwiebeln und sät Sommergemüse: viele Bäume belauben sich. Es gibt Trüffel, wilden Spargel im Überfluß, Fenchelgrün. Man pfropft Birnbäume und Apfelbäume, pflanzt die Reiser und versetzt die Rebenschößlinge. Man darf zur Ader gelassen werden und, wenn es dessen bedarf, Medizin einnehmen – vorausgesetzt, sie ist nicht zu stark. Während dieses Monats gehen Anweisungen zur Anwerbung für die Sommermonate. Schwalben und Störche kehren an ihre Wohnstätten zurück.


März
Folgende Dinge will ich anführen

An den Feigenbäumen nimmt man die Augenpfropfung vor, die im Volksmund tarqi heißt; das Frühgetreide richtet sich auf; die meisten Obstbäume beginnen, sich zu belauben. Es ist die Zeit, in der die Weibchen der valenzianischen Falken auf den Flußinseln ihre Eier legen und sie dreißig Tage lang, bis Anfang April, ausbrüten. Zuckerrohr wird angepflanzt. Frühe Rosen und Lilien blühen. In den Gemüsegärten beginnen die dicken Bohnen Form anzunehmen. Wachteln tauchen auf; die Seidenraupen schlüpfen aus; vom Meer wandern Störche und Maifische flußaufwärts. Man pflanzt Gurken, ebenso Baumwolle, Saflor und Aubergine. In diesem Monat werden die Verwalter schriftlich angewiesen, Pferde für die Regierung zu kaufen. Die Heuschrecken vermehren sich, ihre Vernichtung wird angeordnet. Man sät Citronelle und Majoran. Pfauen, Störche, Tauben und viele andere Vögel paaren sich.


April
Folgende Dinge will ich anführen 

Aus Rosen wird Wasser, Sirup, Öl und Konfitüre zubereitet, man pflückt Veilchen und macht daraus Sirup und Öl oder legt sie ein; man macht Sirup aus Erdraute; es gibt Gurken; man nimmt die künstliche Besamung der Palmen vor und schneidet ihre Blätter. Die frühen Trauben beginnen sich zu bilden, die Olivenbäume blühen, die Feigen bilden sich; die kleinen valenzianischen Falken schlüpfen und bekommen bald Federn; es dauert dreißig Tage. Dann zeigen sich die Rehkitzen. Man stützt die Zitronenbäume und steckt Jasminreiser in den Boden. Die wilden Karotten sind reif und werden zu Konfitüre verarbeitet; dann kommen Mohn, Granat, Ochsenzungen und Blätter und Blüten von Wasserdost, woraus man Saft gewinnt. Henna, Basilikum, Blumenkohl, Reis, Gartenbohnen werden gesät; man pflanzt die grünen Kürbisse aus den Mistbeeten aus, ebenso die Auberginen; die kleinen Melonen werden gesät und Gurken. Pfauen, Störche und viele andere Vögel legen Eier und beginnen sie auszubrüten.


Mai 
Folgende Dinge will ich anführen

Es gibt farik, Oliven und Trauben beginnen Form anzunehmen, die Bienen machen Honig; die ersten frühen Früchte tauchen auf:
Äpfel, Birnen, Ochsenaugen, Aprikosen, Gurken, Kirschen, Nüsse werden eingemacht und Sirup hergestellt aus sabi-Äpfeln, man erntet Mohnsamen und macht daraus Sirup. Im Orient reifen die Sykomoren. Man erntet die Samen von Erdraute, Eppich, Dill, Jupiterbart, schwarzem Mohn, Senf, Brunnenkresse und taratit und gewinnt deren Saft; Kamillenblüten werden gesammelt und daraus Öl gemacht. Während dieses Monats ergehen Anweisungen mit dem Eintreiben von Kermes, Seide und Walkerde für den tiraz zu beginnen. Bis zum Ende des Monats Juli wird aus Kitzen und Gazellenhaut Pergament gemacht. Die valenzianischen Falken mausern sich, und ihre Mauserung dauert bis Anfang oder Ende des Monats August, je nach ihrer Kraft und Vitalität. Die jungen Falken und Milane schlüpfen aus und bekommen innerhalb von dreißig Tagen ihr Gefieder. Die Sommerkraniche kehren zurück von den Flußinseln; Pfauen, Wasserhühner, Störche, Tauben, Spatzen und viele andere Vögel kommen zur Welt.


Juni
Folgende Dinge will ich anführen 

Das Korn auf der Tenne wird gewogen, und man bestimmt die Wächter der Speicher zur Entgegennahme des Zehnten. Es gibt die ersten Trauben. Die Feigen aus der Küstengegend kommen; Walnüsse und Zirbelnüsse bilden sich, man sieht die ersten Melonen; aus grünen Trauben wird Saft bereitet, aus Brombeeren, aus Ochsenaugen. Man fängt Täubchen. Es gibt Wildfett. Die Wildenten auf Flußinseln und Seen schlüpfen aus; wenn sie fliegen können, ziehen sie zu den Flüssen und Bächen. Während dieses Monats ergeht die schriftliche Anweisung, Hirschgeweihe und Hörner von wilden Böcken zur Herstellung der Bögen einzusammeln. An Heilpflanzen erntet man in diesem Monat Stefanskraut, Absinthblüten, denen man Saft entzieht, Honigklee, Kamille, Ephitymian, Flachs, Polium, Pfefferkraut und Saflorblüten. Man sät Kohl, der im August ausgepflanzt wird. Zu Beginn des Monats darf man zur Ader gelassen werden und Medizin nehmen.


Juli
Folgende Dinge will ich anführen

Es ist die Hauptzeit der Getreideernte, und die Gerste wird gedroschen. Die Trauben reifen, die Pistazien nehmen Form an. Die süßlichen Birnen und die säuerlichen Äpfel sind vollreif. Kürbiskonfitüre wird zubereitet, Sirup aus Äpfeln und Birnen. Durchweg sind die Trauben reif, und man schätzt an Ort und Stelle die Ernte. Folgende Heilkräuter werden gesammelt: Senfkörner, Schleierkraut, Thymian, Eibisch, seseli-Korn, das heißt Teufelsdreck. Sumpfvögel wie Wasseramseln gibt es in großer Zahl. Die kleinen Rebhühner tauchen auf und werden gejagt. In den Ebenen beginnt man mit dem Trocknen der Feigen. Die Kordien reifen.


August
Folgende Dinge will ich anführen

Man bereitet Saft aus zwei Sorten von Granat mit Fenchelwasser und macht daraus eine zähflüssige Salbe gegen Hornhauttrübung und andere Augenleiden. Die ersten Datteln und Brustbeeren beginnen zu reifen, die glatten Pfirsiche sind reif, die Eicheln bilden sich aus, die al-hindi genannten Wassermelonen sind reif. Man findet späte süße Birnen und macht daraus Konfitüre. Die Meeresäschen vertauschen das Meer mit den Flüssen und werden in großer Zahl gefischt. Auch Sardinen gibt es massenhaft. Man sammelt folgende Heilpflanzen: Sumach, Körner vom weißen Mohn, aus dem Sirup gemacht wird, Rautenkorn und badaward, Läusekraut und Eberraate. Anweisungen ergehen zum Eintreiben von Seide und Indigo für den tiraz. In den Gärten werden Herbstbohnen, die himmelblauen Levkojen, Rübchen, Karotten, Mangold gesät. Die Strauße sind in der Brunst, und von fern hört man die Stimme der Männchen.


September
Folgende Dinge will ich anführen

Pfirsiche und Brustbeeren, Granat und Quitten sind gut, Rohrzucker und Bananen fangen an, bestimmte Oliven werden schwarz; es gibt neues Öl sowie Eicheln und Maronen; die Vogelbeeren werden reif. In den Bergen von Córdoba beginnt man mit dem Pflügen und der Aussaat. Die ersten Spargel sind zu sehen in den Bergen. Die Niebla-Geier kommen vom Ozean und werden bis Frühlingsanfang gejagt; die Schwalben fliegen zur Küste zurück. Gegen Ende des Monats färben sich die Köpfe der Möwen weiß; dagegen werden die Köpfe der Sumpfvögel zum Frühlingsanfang wieder schwarz. Während dieses Monats ergeht Anweisung, das Krapprot einzutreiben. Man pflückt Walnüsse und Zirbelnüsse, Henna und Gemüse werden ausgezogen; an Heilpflanzen sammelt man Lorbeersamen, aus dem Öl gemacht wird, Flaschenkürbis und Bilsenkraut.


Oktober
Folgende Dinge will ich anführen

Die Olivenernte wird geschätzt und mit dem Pflücken begonnen. Die Kälte nimmt zu. Die Leute legen ihre weißen Gewänder ab und kleiden sich in Rohseide, Wolle oder andere Stoffe. Die Schafe werfen, es gibt reichlich Milch und Lämmer. Die weißen Stare und die schwarzen Stare tauchen auf, die Winterkraniche kommen von den Inseln. In Ägypten entzieht man dem Judasbaum das Balsamöl. Aus Quitten und späten sauren Äpfeln wird Sirup bereitet. Man stellt Bleiweiß her, Kupfergrün und Mennige. Man sammelt Fenchel-, Anis- und Salatsamen. Zwiebeln werden gesät von diesem Monat an bis Ende November.


November
Folgende Dinge will ich anführen

Diese Zeit ist das Herz der allgemeinen Saatperiode. Man pflückt Eicheln, Maronen, Myrtesamen, um daraus Sirup zu machen. Die Bäume verlieren ihr Laub, mit den Sommergemüsen wie Kürbis, Auberginen, Bohnen, Portulak, den »jemenitischen Gemüsen« und dem Basilikum ist es vorbei, aber es gibt Wintergemüse wie Kohl, Rübchen, Mangold, Karotten, Porree und Rettich in Hülle und Fülle. Der Rohrzucker wird eingebracht. Die im August gesäten Herbstbohnen beginnen sich zu bilden; die Gemüsesaat, die Zitronenbäume, die Bananenstauden und der Jasmin werden zugedeckt, damit der Frost ihnen nichts anhaben kann. Man pflückt die Safranblüten.


Dezember
Folgende Dinge will ich anführen

Das Ochsenauge blüht; in den Bergen der Umgebung von Córdoba und in den Gärten kommen die Narzissen zum Vorschein. Die frühen Mandelbäume blühen: die ersten Zedrate werden reif. Während dieses und des nächsten Monats sammelt man das Regenwasser in den Zisternen, und es verdirbt nicht. Den Palmen entzieht man das Mark; man sät die frühen Kürbisse und Auberginen in den Mistbeeten der Gemüsegärten; gleichfalls sät man den Porree auf ein Jahr, dann reißt man ihn aus. Und man sät Knoblauch, der im August verpflanzt wird, und weißen Mohn.

 
Erschienen in Sonnenstand, medieval Heremitages along the Route to Santiago de Compostella, Corcoran Gallery of Art, Washington; Art Institute of Chicago Galerie Wittrock, Düsseldorf 1996